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Blind gehört Daniel Behle

„Eine tolle Inspiration“

Der Tenor Daniel Behle hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer singt.

vonRainer Aschemeier,

Daniel Behle hat eine Menge zu erzählen. Er ist nämlich nicht nur einer von Deutschlands aufregendsten jungen Tenören, sondern er komponiert auch. Gerade hat er ein populäres Album mit Hamburg-Liedern konzipiert und selbst arrangiert. Zudem ist noch eine Winterreise in Vorbereitung, bei der Daniel Behle ebenfalls kompositorisch tätig war. Er hat seine neue Fassung nämlich für ein Klaviertrio mit Sänger angelegt.

An einem sonnigen Dezembertag treffe ich den Tenor leicht erkältet im CVJM in Stuttgart. Die Weihnachtszeit macht nicht Halt vor tenoralen Schnupfennasen. Bachs Weihnachtsoratorium steht an und wird ein Stockwerk über uns bereits geprobt. Musiker und Helfer huschen über die Flure. Mitten in diesem Getümmel finden wir einen ruhigen Raum für unser „Blind gehört“-Gespräch.

Strauss: 4 Lieder op. 27
Collection Vol. 5

Jussi Björling (Tenor), Harry Ebert (Klavier)

1939/2005. Naxos Historical

Daraus: „Morgen“
Ah, Strauss! (singt) „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen …“ Definitiv eine historische Aufnahme. Dann könnte Strauss hier selbst am Klavier sitzen. Nein? Das ist auf jeden Fall Vintage! Allein schon die Art der Phrasierung, und dann noch das Portamento. Das ist schon fast italienisch. Eine sehr starke Kopfmischung hören wir hier, sehr lyrisch. Tja, da habe ich nun so gar keinen Tipp. Jussi Björling ist das? Wirklich Björling? Aber jung! Darauf wäre ich nicht gekommen. Erstaunlich, dass er auch Lieder auf Schallplatte aufgenommen hat. Ich höre hier Björling zum ersten Mal im Liedsektor. Später hat er ja das ganz große Fach gesungen. Über Björling bin ich überhaupt erst zum Singen gekommen. Das war eine Arie aus Offenbachs Die schöne Helena (singt), das hat Björling auf schwedisch gesungen. Das war eine der ersten Aufnahmen, die ich gehört habe, und bei der ich mir gesagt habe: „Mensch, das ist doch toll!“

Schumann: Liederkreis op. 39 

Peter Schreier (Tenor), Norman Shetler (Klavier)

1975. Berlin Classics

Daraus: „In der Fremde“ 

Schumanns In der Fremde. Aha. Habe ich selbst noch nicht gesungen. Oh, das ist wunderbar! Schöne warme Stimmfärbung, gute Textverständlichkeit. Gefällt mir gut. Ein toller Liedersänger! Ich darf sagen, so wie der singt, so ist das vorbildlich. Wer ist das? Peter Schreier? Wirklich? Das überrascht mich jetzt. Von wann ist denn die Aufnahme? Ach, eine frühe Aufnahme. Schreier hatte später manchmal so eine gewisse Schärfe in der Stimme. Die hört man hier nicht. Es mag aber auch sein, dass das bei ihm je nach der Besetzungsstärke mal ein Thema war und mal nicht. Diese CD ist übrigens auch klanglich sehr schön aufgenommen. Das ist auch nicht immer selbstverständlich.

Schumann: Liederkreis op. 39

Anne Schwanewilms (Sopran), Manuel Lange (Klavier)

2013. Capriccio

Daraus: „In der Fremde“

Aha, nun mit einer Sopranstimme. Interessant. Die Dame kenne ich auf jeden Fall. Aber ich komme wieder nicht drauf. Die Aufnahme ist etwas älter, oder? Nein? Wieder eine sehr warme Stimme. Die Sängerin trifft den Charakter des Liedes sehr gut. Aber man kann ja immer ein wenig meckern. Bei dieser Einspielung zum Beispiel werden Konsonanten geopfert, um die auratische Linie beibehalten zu können. Insgesamt sehr schön. Aber die Schreier-Aufnahme gefiel mir besser.

Mozart: Requiem 

Ileana Contrubas, Helen Watts, Robert Tear, John Shirley-Quirk, Academy of St Martin in the Fields, Sir Neville Marriner, 1977. Decca

Daraus: „Recordare“

Hier muss ich mich erst einmal einhören. Das Quartett im „Recordare“ ist undankbar für den Tenor. Das hört man hier leider auch. Das Mozart-Requiem ist eines von diesen Stücken, die den Sängern viel abverlangen, und hinterher stehst Du trotzdem nicht im Rampenlicht. Robert Tear ist das? Den mag ich normalerweise gern. In dieser Aufnahme aber klingt manches spröde.

Wagner: Wesendonck-Lieder

Jonas Kaufmann (Tenor), Orchester der Deutschen Oper Berlin, Donald Runnicles (Leitung)
2013. Decca

Daraus: „Im Treibhaus“

Jonas Kaufmann, ganz klar. Wesendonck-Lieder … Ganz ehrlich? Kaufmann singt mir persönlich zu kehlig. Da spalten sich die Lager. Mir fällt da immer Kurt Moll ein. Der holte sich die Tiefe in der Stimme mit denselben Mitteln wie Kaufmann. Für einen Bass funktioniert das. Aber für einen Tenor? Geschmackssache. Der Rachen muss bei dieser Art zu Singen weit geöffnet sein, und dann kommt das Piano mir zu hauchig. Dieses tiefe Kaufmann-Timbre stellt einen hohen Aufwand dar. Das kostet viel Kraft, um diese Masse an Klang bis in die letzte Reihe der MET zu transportieren. Meine Mutter sagte einmal, eine gute Stimme muss, wie ein fokussierter Strahl sein, der die Musik durch den Saal trägt. Das ist die Art, mit dem geringsten Aufwand maximale Möglichkeiten zu erzielen. Kaufmann aber ist ein Kraftpaket und kann so singen wie er will. Bei ihm funktioniert es ja auch bis zum C, und das ist sehr beeindruckend.

Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg

Klaus Florian Vogt (Tenor), Bamberger Symphoniker, 

Jonathan Nott (Leitung)

2013. Sony Classical

Daraus: „Fanget an!“

(noch bevor die Musik startet) … und nun Vogt. Man erkennt ihn gleich, und seine Stimme soll toll tragen. Vogt ist eben der krasse Gegenentwurf zu Kaufmann. Beides finde ich aber nicht optimal. Vogt zuzuhören ist so, als wenn 99% der Tenöre rechtsrum gehen. Und der Vogt geht linksrum und sagt: Ich komme aber auch an. Und das ist legitim und er hat damit sein Modell gefunden. Manchmal hört man allerdings Schwächen bei der Phrasierung. Er könnte viel besser die Linie ziehen. Er kann das sicher, macht es aber zu selten. Und das geht auf Kosten der Emotionalität. Diese Tiefe, diese archaische Kraft, die bei Wagner in der Musik liegt, die will ich auch im Ausdruck hören. Also: Mein Ideal in Sachen Wagner sehe ich weder bei Vogt noch bei Kaufmann, sondern irgendwo dazwischen.

Gluck: Alceste

Nicolai Gedda (Tenor), SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ernest Bour (Leitung)

1954. Hänssler Classic

Daraus: „Welch Gefühl schwellt meine Brust“ 

Das ist Nicolai Gedda! Das höre ich sofort am Portamento. Toll! Hören Sie, wie hier der Ansatz stimmlich zentral und hell ist und trotzdem „hintenrum“ die Abrundung in den tiefen Mitten stattfindet? So sollte es sein. Nicht von unten nach oben und dann noch versuchen, dem Ganzen eine Form zu geben. Gedda ist schon einer der zeitlosen Helden. Gluck ist übrigens das Thema auch einer meiner nächsten CDs. Mit dieser Gedda-Aufnahme kann ich mich sofort identifizieren. Wenn ich so etwas höre, dann nehme ich etwas für mich mit, für meinen Gesang. Wenn ich jetzt rausgehen müsste und singen, dann wüsste ich sofort, wie ich den Ton ansetze. Eine tolle Inspiration.

Humperdinck: Königskinder 

Peter Anders (Tenor), Käthe Möller-Siepermann (Sopran) 

Kölner RSO, Richard Kraus (Leitung)

1952. Walhall

Daraus: „Was ist ein König“  

Die Königskinder. Hab ich auch schon gemacht. Aber anders als hier. Mir sitzt hier die Stimme ein bisschen zu tief. Dieser Tenor kommt sehr über die Sprache. Das Besondere an Humperdinck ist zwar, dass die Komposition ähnlich wie bei Wagner sehr aus dem Parlando heraus funktioniert. Das war ja sein Novum. Trotzdem hätte ich persönlich hier gern die Linie mehr gesungen gehört, weniger deklamatorisch. Bei diesem Sänger klingt die Stimme außerdem nach oben hin ein bisschen sehr „zu“, es sollte eigentlich „offener“ klingen. Ach, Peter Anders ist das? Naja, bei dieser alten Rundfunkaufnahme klingt alles etwas topfig. Die Technik war hier nicht ideal. Vielleicht trägt das mit zum eher moderaten Eindruck bei. Die Stimme kann in natura viel schöner geklungen haben.

Bach: Matthäuspassion 

Topi Lehtipuu (Tenor), Akademie für Alte Musik Berlin, RIAS Kammerchor, René Jacobs (Leitung)
2013. harmonia mundi

Daraus: „Ich will bei meinem Jesu wachen“

(sagt lange gar nichts, hört intensiv zu) Bachs Matthäuspassion. Da hätte ich beinahe bei einer neuen Aufnahme von René Jacobs mitgemacht, aber das wurde terminlich leider nichts. Das ist gerade die Aufnahme? Ach, interessant! Dann ist das Topi Lehtipuu? Er gestaltet sehr schön. Mit René Jacobs haben in letzter Zeit leider einige Termine nicht geklappt. René ist genial. Sicher durch und durch Barockmusiker, auch wenn er Mozart macht. Naja, ich habe bereits so viel Barockmusik aufgenommen, dass ich nun darauf achten möchte, im Opernbereich den Weg in Richtung Strauss und Wagner weiterzugehen. Trotzdem tut es mir im Herzen leid, wenn so großartige Sachen wie dieses Bach-Album aus rein terminlichen Gründen nicht funktionieren.

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