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Interview Gabriel Venzago

„Das Leben besteht aus Details“

Gabriel Venzago hat in dieser Spielzeit sein Amt als Generalmusikdirektor und Chefdirigent in Mainz angetreten.

vonPatrick Erb,

Obwohl Gabriel Venzagos Dirigierlaufbahn klassisch anmutet, ist sein Zugang zum Beruf sehr zeitgemäß: Fern klassischer hierarchischer Muster sucht der 35-Jährige, gerade im Amt als neuer Mainzer GMD, die Begegnung mit seinem Orchester – und dem Publikum – auf Augenhöhe. Dabei möchte er künstlerische Akzente setzen, die bleiben.

Sie haben in München und Stuttgart studiert, erste Dirigierarbeiten in Baden-Baden und Stuttgart übernommen und sind nun Chef in Konstanz und Mainz. Warum hat es Ihnen der Süden so angetan?

Gabriel Venzago: Es gab noch Zwischenstationen in Schwerin, Hildesheim und Salzburg. Aber ja, als gebürtiger Heidelberger ist mir die Mentalität im Süden vertrauter. Insbesondere von der Mainzer Offenheit fühle ich mich angesprochen.

Inwiefern?

Venzago: Am Staatstheater herrscht ein vorbildliches Betriebsklima. Die Kommunikation innerhalb des Hauses ist sensationell, offen, man spricht auf Augenhöhe. Ich habe manchmal gar nicht das Gefühl, zur Arbeit zu gehen, weil es wirklich sehr harmonisch ist.

Was heißt das konkret?

Venzago: Wir besprechen das meiste in Teams. Spielplanfragen, Besetzungen, Engagements von Sängerinnen, Sängern oder Regieteams: Es gibt kein Vorpreschen einzelner Personen. Sogar kleinere Entscheidungen werden gemeinsam am Tisch getroffen. So etwas habe ich selten erlebt. Wir reden ja in der Branche viel darüber, Machtstrukturen umzubauen und Machtmissbrauch vorzubeugen. Hier werden Mechanismen gelebt, die so etwas tatsächlich schwer möglich machen. Das bewundere ich sehr.

Sie haben mal gesagt, diese Form von Macht sei heute weder modern noch erwünscht. Was meinen Sie damit?

Venzago: Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Wir sind zu einer Gesellschaft von Individualistinnen und Individualisten geworden, in der jede und jeder Entscheidungen treffen kann. Das birgt Risiken – man sieht ja, wie schwer es geworden ist, eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Aber ein klassischer Machtanspruch, der von oben herab behauptet und durchgesetzt wird, wirkt heute fast altertümlich. Ein Donald Trump, der Macht hat und sie so ausübt, wirkt für mich wie aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert.

Verbinden Sie mit dem Dirigieren einen gewissen Machtanspruch?

Venzago: Als GMD will ich keine „Basta“-Politik durchsetzen, sondern ich frage: Was sind die Spezialitäten des Hauses, der Stadt, was wird gebraucht, was können wir gemeinsam entwickeln? In der musikalischen Gestaltung ist es ähnlich: Wenn ich frontal ein Tempo aufoktroyiere, komme ich nicht zum besten Ergebnis. Ich möchte, dass Musik aus einem kammermusikalischen Wunsch entsteht, miteinander zu spielen – nicht aus einem „Ihr müsst jetzt“. Deshalb glaube ich, dass wir den Machtbegriff insgesamt neu denken müssen.

Gleichzeitig gibt es – zumindest politisch – eine Sehnsucht nach Führung. Was wäre für Sie eine „aufgeklärte Führung“ in der Musik?

Venzago: Macht und Führung sind zwei verschiedene Dinge. Führung braucht es unbedingt. Nur auf welche Weise? Ich versuche, viel zu sprechen, die Leute mitzunehmen. Irgendwann ist es aber meine Aufgabe zu entscheiden. Dafür übernehme ich Verantwortung. Natürlich steckt in dieser Entscheidung Macht, aber es macht einen Unterschied, ob ich autoritär agiere oder aus einer inneren, gemeinsam entwickelten Position heraus.

Wie äußert sich das konkret im Probenalltag?

Venzago: In der Sinfonik ist es etwas einfacher, weil wir in der Oper mehrere Gewerke sind und wir als Orchester immer die Sängerinnen und tragen wollen. Grundsätzlich gilt: Ich habe meine musikalischen Wünsche, aber eben auch die Musikerinnen und Musiker ihre Ideen. Hier versuche ich offen zu bleiben und diese Vorstellungen miteinander zu verknüpfen, auf der Suche nach dem besten Ergebnis. Dabei erlebe ich, dass, je mehr ich mit dem Orchester an Farben und Extremen arbeite, desto mehr der Wille entsteht, diese auch auszuspielen.

Was ist Ihr erstes musikalisches Fazit nach drei Monaten? Was hat Sie bislang am meisten beeindruckt an Ihrem neuen Orchester?

Venzago: Die enorme Flexibilität. In meinen ersten Proben hatte ich das Gefühl: Egal, was ich mache, das Orchester kommt mit – wie ein Handschuh, den man sich überstreift. Wir haben einen aktiven, spielfreudigen Klang; insgesamt ist es ein sehr agiles Orchester, das Anweisungen extrem schnell umsetzt.

Eine der wichtigsten Bewährungsproben Ihrer ersten Spielzeit steht noch bevor: Sind Sie karnevalsaffin? Welche Kompetenzen bringen Sie für die Mainzer Fastnacht mit?

Venzago: Heidelberg hat keine riesige Karnevalskultur. Es gibt den Faschingsumzug, damit wächst man auf. In Konstanz habe ich dann erlebt, was Fastnacht in der alemannischen Tradition bedeutet. Mainz ist für mich jetzt noch einmal ein neues Terrain. Ich freue mich darauf, habe aber auch ein bisschen Respekt vor meiner ersten Runde hier.

Legt Wert auf flache Hierarchien: Gabriel Venzago
Legt Wert auf flache Hierarchien: Gabriel Venzago

Zudem stand mit Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ gleich eines der komplexesten spätromantischen Musiktheaterwerke auf dem Programm. Was steht sonst noch auf Ihrer Wunschliste für Mainz?

Venzago: In der ersten Saison war mir wichtig, eine möglichst breite Palette anzubieten und aufzuzeigen, was möglich ist. Langfristig sehe ich meinen Kern im klassischen Repertoire, insbesondere Mozart schätze ich sehr. Mit dem Mozarteumorchester habe ich damals einen wunderbaren Mozart-Klang entwickeln können. Es wird aber definitiv auch Wagner und Spätromantik geben. 

Wenn Sie in fünf Jahren auf Ihre Zeit in Mainz zurückschauen – woran soll man erkennen, dass ein neues Kapitel für Orchester und Haus aufgeschlagen wurde?

Venzago: Daran, dass man eine große Offenheit spürt: dass die Schwelle zum Konzertsaal und zur Oper niedriger geworden ist, dass klar ist, dass die Themen, die wir verhandeln, alle etwas angehen und jede und jeder hier einen Platz hat. Und dass sich das Orchester auf hohem Niveau mit noch mehr Würze und Klangideen weiterentwickelt hat.

Sie sprechen oft von Vermittlung und davon, die klassische Musik aus dem Elfenbeinturm zu holen. Wie gehen Sie das konkret an?

Venzago: Es geht mir nicht nur um ein jüngeres, sondern um ein breiter gefächertes Publikum. Theater ist für viele Menschen auch ein Zufluchtsort, und das möchte ich nicht aus dem Blick verlieren. Ich bin kein großer Crossover-Fan, der permanent Rap im Konzert braucht. Man kann solche Leuchttürme setzen – aber ich glaube an Vermittlung mit eigenen Mitteln: mit Formaten, in denen erzählt wird, was in der Musik steckt, mit Sprechformaten, Gesprächsreihen, unterschiedlichen Zugängen. Wir haben eine sehr gute Dramaturgie, aber ich möchte die Bandbreite erweitern: Zwischen „nur Konzert“ und „nur Oper“ sollte es verschiedene Stufen geben, die Inhalte vermitteln. Entscheidend ist, herauszufinden, was das Mainzer Publikum sich wünscht.

Sie sind als GMD noch relativ jung, haben aber schon eine klassische Theaterlaufbahn hinter sich. Würden Sie Nachwuchsdirigenten einen ähnlichen Weg empfehlen?

Venzago: Es kommt darauf an, was man will. In der Theaterlaufbahn lernt man das Handwerk ausführlich. Wenn man die „große Karriere“ im Schnellgang machen will, weiß ich aber nicht, ob das der richtige Weg ist. Gewinnerinnen und Gewinner großer Wettbewerbe können sehr schnell an Spitzenorchester kommen. Mir ist aber wichtig, dass der Wille zur Interpretation und Vielfalt nicht verloren geht. Ich höre manchmal Brahms-Sinfonien, bei denen ich Orchester und Dirigentinnen und Dirigenten kaum unterscheiden kann, weil vieles sehr ähnlich klingt. Wenn ein Brahms in Mainz genauso klingt wie in Hamburg, Wiesbaden oder Seoul, könnten wir auch gleich Strea­mingdienste nutzen.

Mit „Der Chronoplan“ interpretieren Sie bald eine Oper, die vor rund hundert Jahren entstanden ist, aber noch nie aufgeführt wurde. Wie kam es dazu, und was reizt Sie daran?

Venzago: Das Projekt war schon auf den Weg gebracht, bevor ich hier Chefdirigent wurde. Ich erinnere mich an eine der ersten Verhandlungsrunden, in der unsere Chefdramaturgin Sonja Westerbeck strahlend sagte: „Wir haben es!“ – Da war die Euphorie groß, weil das Stück sehr begehrt war. Die Geschichte der Oper fand ich so witzig und eigen, dass ich sofort gesagt habe: Das möchte ich dirigieren.

Was erwartet das Publikum musikalisch?

Venzago: Eine interessante Mischung aus Berliner Operette mit romantischen Elementen, ein bisschen Strauss, viel Witz und Alltagsparodie. Es gibt komplexe, fast zwölftonartig anmutende Klänge, aber auch farbenfrohe, revuehafte Szenen sowie viel Leitmotivik und durchaus auch Zitate. Die große Tempovielfalt und unglaublich exaltierte Rollen machen es extrem schwer zu singen.

Die Konstellation der Komponistin Julia Kerr mit ihrem Mann Alfred als Librettisten ist in den 1930er-Jahren höchst ungewöhnlich …

Venzago: Jeder Akt spricht eine andere musikalische Sprache – das kenne ich aus dieser Zeit kaum. Revolutionär ist auch die Thematik: eine Zeitmaschine, Zeitreisen, eine Zukunftstechnologie, die damals reine Utopie war, und das alles musikalisch umgesetzt. Dazu kommen die Auftritte damals lebender Persönlichkeiten wie Einstein oder Strauss, die versatzstückhaft mit entsprechenden musikalischen Anspielungen erscheinen. Das ist unglaublich verspielt und gleichzeitig sehr zeitgeistig. In unserer aktuellen politischen Situation schlägt das Stück einen durchaus erschreckenden Bogen in die Gegenwart.

Die Zeitmaschine führt im Stück zurück in die Romantik als Sehnsuchtsort. Wenn Sie selbst eine Zeitreise machen könnten, wohin ginge sie?

Venzago: Ins Wien der Jahrhundertwende. Diese Kaffeehäuser, in denen Dichter, Denker und Komponisten miteinander diskutieren, diese Energie würde ich gern einmal unmittelbar erleben. Ich habe das Gefühl, dass wir aus dieser Energie bis heute nicht alles geschöpft haben. Der Bruch durch die NS-Zeit hat uns in der Kunst weit zurückgeworfen. Was danach entstanden ist, ist wichtig und vielfältig, aber diese Wiener Moderne ist für mich noch nicht auserzählt. Und ganz banal: Einmal ohne Social Media leben, den Tag so erleben wie damals, das fände ich reizvoll.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Welche Rolle sollte klassische Musik in 30 Jahren spielen?

Venzago: Sie sollte nicht museal werden. Wir brauchen keine Referenzaufnahme von Beethoven, sondern dreihundert Interpretationen. Das Leben besteht aus Details und die klassische Musik ist ein Abbild des Lebens. Unsere Aufmerksamkeitsspannen sind kurz geworden, auch meine. Ich hoffe, dass wir uns in der Klassik Zeit fürs Detail nehmen, darin liegt ihre Stärke: im konzentrierten Moment, im bewussten Hören.

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