Wie sich die Möglichkeiten von Counterstimmen in der dritten Generation des Kults um diese Stimmgattung differenzieren, zeigt die künstlerische Strategie von Samuel Mariño. Der aus Venezuela stammende Männersopran vollzieht einen Wechsel vom expliziten Virtuosentum ins lyrische Repertoire. Parallel erschließt er sich Pfade in die Unterhaltungsmusik. Wie früher sein Fachkollege Jochen Kowalski, kleidet Mariño Bekanntes in überraschend plastische Arrangements. Bemerkenswert gerät die Spannweite vom sakralen „Ave Maria“ über Hahns doppelsinnig queeres „À Chloris“ und Strauss’ „Morgen!“ bis zu Edith Piaf. In der Interpretation demonstriert Mariño ein hohes Maß an Eigenwilligkeit und Konsequenz. Dabei interessiert ihn weniger der emotionale Kontrast zwischen den Stücken als deren Eignung, als Bühne seines außergewöhnlichen Potenzials zu dienen. Ein spannendes Plädoyer setzt Mariño mit Rusalkas „Lied an den Mond“. Warum nicht eine erweiterte Bedeutung dieser heteronormativen Sehnsucht einer Nixe nach dem Märchenprinzen durch eine Dimension, die Transition und non-binäre Transzendenz einschließt? Begleitet wird Mariño von einem Ensemble, das sich ganz in den Dienst seiner Vision stellt.

Lumina
Werke von Händel, Schubert, Dvořák, Liszt, J. S. Bach, R. Strauss u. a.
Samuel Mariño (Sopran), Jonathan Ware (Klavier), Covent Garden Sinfonia, Ben Palmer (Leitung)
Decca