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Porträt Marc-André Hamelin

Ein Mann mit Gesicht

Der kanadische Pianist und Komponist Marc-André Hamelin führt auf, was andere für unspielbar halten

Freundliches Lächeln im bärtigen Gesicht, gemütlicher Blick, ein leises Auftreten, eher schmale Hände. Stellt man sich so einen donnernden Tastenlöwen vor, einen „Supervirtuosen“, wie ihn der bedeutende amerikanische Kritiker Harold Schonberg nannte, nachdem Hamelin 1985 den 1. Platz bei der Carnegie Hall American Music Competition errang? Wenn man nach den Auszeichnungen urteilt, die er seitdem beständig einheimste, dann ist er wohl ein Supervirtuose – darunter etliche Juno Awards, der kanadische Grammy und ganze siebzehn (!) Preise der deutschen Schallplattenkritik. „Ich weiß auch nicht“, lacht er, „was die Deutschen an mir finden. Die scheinen mich zu lieben.“ 

Früh abzusehen war das nicht: „Nein, ein Wunderkind war ich nicht!“, erzählt der Sohn eines Pharmazeuten, der 1961 in Montreal geboren wurde. Auch aus der Sicht der Künstlermanager „habe ich bestimmt vieles falsch gemacht“. Er sei nun wirklich nicht der charismatische Überflieger gewesen, der „Magnetketten in die Massen“ zu werfen verstünde, wie einst Robert Schumann über Paganini schrieb – trotz einer bereits in jungen Jahren aufsehenerregenden Leichtigkeit für „pyrotechnische“ Kunststücke und halsbrecherische Klavierliteratur. „Doch meine Karriere ging zunächst sehr langsam voran, trotz meines Carnegie-Hall-Preises. Etliche Manager kamen zu mir, nachdem ich gewonnen hatte, um mich unter Vertrag zu nehmen. Ich wählte offenbar einen aus, der nicht gerne telefonierte“, sagt er mit dem ihm eigenen trockenen Humor. „Manager wollen ein Gesicht verkaufen. Und das hatte ich wohl nicht“, lacht er. 

 

Neugier: Hamelin findet immer wieder neues Repertoire

 

Erst in den letzten fünfzehn Jahren, sagt er, sei seine Karriere „exponentiell gewachsen“, ja förmlich explodiert. Das liegt nicht nur an einem neuen Manager, sondern wohl auch an Hamelins Repertoire. Als „ein Mann ohne Gesicht“ wusste er, dass er mit gängigem Repertoire nicht auffallen würde. Also entschied er sich für entlegenes Repertoire, für Klavierraritäten, die ihn schon immer gereizt hatten. „Ich war bereits als Kind musikalisch sehr neugierig. Mein Vater war ein sehr guter Amateurpianist und ein leidenschaftlicher Sammler von Platten, Büchern und Partituren.“ Eine Leidenschaft, die er auf den Sohn übertrug. Seine erste Liebe galt Charles Ives, da war er kaum fünfzehn, dann folgte eine Skrjabin-Phase. Später faszinierte ihn das Werk von Villa-Lobos, Stockhausen, Boulez, Xenakis, Cage … Als er 1980 in die USA ging, wendete er sich der Musik der Jahrhundertwende zu. „Diese extreme Zeit, wo die tonale Harmonik an ihre Grenzen stieß und diese überschritt, als Kraft jedoch immer noch wirksam war. Diese ganzen wundersamen und merkwürdigen harmonischen Experimente“, schwärmt er. Seine Identifikation mit den Komponisten und ihren Interpreten ging so weit, dass er selbst anfing zu komponieren. 

 

Erfolg: Auch das Sperrige findet reißenden Absatz

 

Im englischen Label Hyperion fand er den kongenialen Partner, all die Literatur einzuspielen, all die dunklen Ecken im Repertoire zu erkunden, von denen kaum einer Notiz genommen hat, wie etwa Werke von Charles Valentin Alkan, Nikolai Roslawez, Joseph Marx, Nikolai Medtner und vielen anderen. Das erweckte Neugier, seine Anhängerschar wurde immer größer. „Viele kennen mich nur über meine CDs oder aus den YouTube-Videos.“ Die vielen Preise gaben ihm und seiner Plattenfirma recht. „Wohl auch aus diesem Grunde will Hyperion immer noch mit mir arbeiten“, lacht er. Sogar seine zwischen 1986 und 2009 komponierten zwölf Etüden in allen Moll-Tonarten hat Hyperion mit ihm aufgenommen. „Furchterregende Musik … Unspielbar“, urteilte die Kritik. Hamelin lacht und freut sich. Nur er selbst kann dies wohl. Ein Supervirtuose. Mit Gesicht.

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