Mit Suppés „Boccaccio“ und Millöckers „Gasparone“ bildet „Eine Nacht in Venedig“ die Trias der Italo-Operetten aus Wiens Goldener Operetten-Glanzzeit. Uraufgeführt wurde das wunderbar melodiensatte Stück allerdings 1883 in Berlin. Heutige Produktionen erstellen aus der Berliner, der Wiener und den beiden Bearbeitungen Erich Wolfgang Korngolds (aus den Jahren 1923/ 1931) meist eigene Spielfassungen. Jetzt setzte Lotte de Beer, Intendantin der Volksoper Wien, „Eine Nacht in Venedig“ zum Festjahr Johann Strauss 2025 auf den Spielplan und die Premiere am 25. Oktober genau auf den 200. Geburtstag des Walzerkönigs. Bei der öffentlichen Generalprobe zeichnete sich beim angestammten Publikum ein leicht zäher Erfolg ab.
Bipolare Bühnenästhetik oder: Eulen nach Athen tragen
Das erfahrene Volksoper-Orchester setzt die Ouvertüre mit Esprit und Herzlichkeit, doch später werden instrumentale Glanzfunken selten. Oder liegt es an der bipolaren Bühnenästhetik? Zu Beginn nimmt der Chor in nach 18. Jahrhundert aussehenden Genre-Gewändern Aufstellung. Diese bilden mit den aseptisch weißen Säulen, Bögen, Schwingtüren, Treppen und Galerien von Studio Dennis Vanderbroeck fast einen Missklang.

Mit dem mobilen Pasta-Studio des Kochs Pappacoda, einem Sonnenbrillen-Kiosk und Prosecco („Wer denkt bei Alkohol an die Uhrzeit…“) schiebt sich immer mehr Gegenwart ins Ambiente. Zur wenig prickelnden Karnevalsparty beim Herzog von Urbino tummelt und tümelt eine Fun-Community in Kostümen von Pop- und Comicidolen des 20. Jahrhunderts. Der Herzog selbst ist Batman, sein Barbier Caramello macht auf Robin.
Das mit dringlichen Zielen drahtziehende Freundinnen-Trio erscheint als Superman-Tripel: Die Senatorin Barbara (starke Präsenz: Ulrike Steinsky) mit klein gehaltenen Seitensprung-Ambitionen, die Fischerin Annina und die Zofe Ciboletta dagegen hin- und hergerissen zwischen Fürsorge und Gereiztheit wegen ihrer ungehemmt egoistischen Lover Caramello und Pappacoda. Nina Spijkers, in den Niederlanden als Schauspielregisseurin hoch angesehen, hatte im Vorfeld eine „Suche nach dem eskapistischen und hedonistischen Potenzial des Werkes“ versprochen. Das ist wie Eulen nach Athen oder Wagner nach Bayreuth tragen.

Flache Slapstick-Suite
Johann Strauss‘ zweiter Akt mit dem Verwechslungs- und Verwicklungsspiel im Palazzo des Herzogs gehört eigentlich zu den schönsten Akten der gesamten Gattung, gerät hier aber leider zur banalen Slapstick-Suite. Kurzatmig und ohne rechten Mumm für die perfiden bis galanten Situationen reicht Spijkers‘ koordinierender Atem immer nur bis zum nächsten müden Gag.
Da leidet besonders Juliette Khalil darunter. Die Figur Ciboletta wird nicht besser, wenn die Zuschreibungen aus Zells und Genées Originaldialogen gestrichen sind. Fabian Pflegers Dialog-Neufassung enthält gewiss einige gute Aspekte. So wird ein Senator zur populistischen Senatorin Giorgia Testaccio, was Ursula Pfitzner mit Röhre und vielen Ausrufezeichen akzentuiert. Dass der Herzog nur aus Kalkül sein Womanizer-Image kultiviert und mit den Frauen zwar Kumpelei, aber keine physischen Abenteuer will, bleibt von Anfang bis Ende gezwungen. Hier steht er weder auf Frauen noch auf Männer. So agiert Lucian Krasznec, am Gärtnerplatz über Jahre ein Publikumsliebling in sensiblen Liebhaber-Partien, fast beängstigend hölzern.
Das von Korngold zugesetzte Auftrittslied bleibt vom Orchester ohne Raffinesse. Etwas mehr Glück zeigen Jakob Semotan als penetrant geldgeiler Pappacoda und David Kerber als ein Caramello mit mehr Stärken beim Intrigieren als beim Charmieren. Mit Methode wertet Spijkers die Männer ab, was ausgerechnet beim recht noblen und wenig biestigen Delacqua von Marco Di Sapia nicht gelingt. Die dramaturgische Akzentverschiebung geht auch deshalb nicht auf, weil die Frauen dadurch kaum stärker wirken und sich zu oft mit Floskeln wie „Super“ oder „Ähhhh“ artikulieren. Mit dem weißen Bühnenbild, das der verbissen spielfreudige Chor etwas lebendiger macht, bleibt sogar das Ambiente blässlich.

Zahm lyrisch
Aus dem Graben kommt von Alexander Joel zuerst solide, dann aber immer weniger Hilfe. Die goldene Wiener Operette klingt hier – da muss man nicht einmal den Vergleich mit den Wiener Symphonikern für Stefan Herheims umstrittene „Fledermaus“ im Theater an der Wien bemühen – leider matt. Johanna Arrouas gibt eine lyrisch akzentuierte Annina ohne ausfahrende Krallen. Carin Filipčić und Martina Dorak teilen sich mit einer Diskretion der Kundigen das Couplet „So ängstlich sind wir nicht“.
James Park ist ein zahmer Enrico. Gerade bei einem an Vitalität und sensiblen Reizen derart reichen Stück wie „Eine Nacht in Venedig“ werden die gut gemeinten Erläuterungen des Produktionsteams in Sachen Beziehung und Erotik zur Hinhaltetaktik, welche das früher als problematisch betrachtete Textbuch mehr verunstaltet statt optimiert. Das Publikum applaudierte in der ersten öffentlichen Vorstellung wohlwollend, lachte aber wenig und war – gemessen an früheren Wiener Saalschlachten – erst recht von resignativem Gleichmut.

Strauss-Jahr 2025
Gerade die Erarbeitung von Johann Strauss‘ Kompositionen mit Mitteln der Gegenwart war Festjahr-Intendant Roland Geyer wichtig. Diese Vision realisiert er mit vielen Wiener Kulturinstitutionen auf breiter Basis in drei Kategorien: PUR für originale Annäherungen, wobei auch Stefan Herheims Bearbeitung der „Fledermaus“ mit Visionen bis zu einem Doktor Falke als Hitler-Anhänger und dem Gefängnisakt kurz vor Anschluss Österreichs an das „Dritte Reich“ oder Spijkers‘ Deutung als Überschreibungen die Kategorie MIX streiften.
OFF katapultierte „Musik von Strauss in ganz neue Dimensionen von Klang, Zeit und Raum“, Digitalität und VR inbegriffen. Dazu gehörte zum Beispiel die „Opernball“-Satire des belletristischen Wiener Gen Z-Sprachrohrs Stefanie Sargnagel im kultigen Rabenhof. Nicht ganz auf Jelinekscher oder Schwabscher Metaphernhöhe ist Sargnagels Pamphlet über anorektische Gesellschaftsdamen und mediengeile Möchtegern-Magnaten – eine neue Stimme in der langen Reihe österreichischer Schmutz- und Schand-Prosa.
Neben Großereignissen ging Geyers Konzept an vielen prominenten und unerwarteten Stellen im Stadtraum auf, weg vom traditionellen Operettencharme mit mitunter arg ausgefransten Säumen und vergilbten Krägen hin zum Weltbürger Strauss. Das hatte indirekt Einflüsse bis zum Festakt am Morgen des 25. Oktober. Bürgermeister Michael Ludwig und Kultur-Stadträtin Veronica Kaup-Hasler würdigten da den epochalen Jubilar mit relativ wenig Lametta.

Anne-Sophie Mutter und Wiener Sängerknaben, Max Richter und John Williams im Gratulanten-Defilé
Zwei Konzerte im Musikverein folgten, bei denen man die Strauss-Kompetenzen der beiden hauptstädtischen Paradeorchester vergleichen konnte. Die Wiener Philharmoniker unter Tugan Sokhiev wiederholten unter geringfügigen Abwandlungen das Geburtstags-Galakonzert von vor genau 100 Jahren – mit einem Streicherleuchten wie vom Himmel, welcher zu wirklicher Schärfe gar nicht ausholen möchte. Die Uraufführung von Georg Brenscheids Hommage „Schani200“ beginnt knapp im Wiener Idiom, holt aus zu Gesten à la Prokofjew und Schostakowitsch bis zu einer dionysischen Coda.
Am Abend dann die Symphoniker mit zwei Uraufführungen für die Geigerin Anne-Sophie Mutter. Max Richter, war im Strauss-Festjahr bereits im März mit seinem achteinhalbstündigen Outdoor-Spektakel „Sleep“ in Wien. Er nahm sich die Freiheit und komponierte in den ersten Sätzen seiner stilisierten „Three dances“ der Paganinissima nur schlichte kreisartige Minimalfiguren. Erst im Finale „Time Colours“ kommt artistische Bewegung in Richters freies Tonpoem.
Nicht anwesend war John Williams zu seiner Uraufführung von „When The World was Waltzing“ für Mutter und den Dirigenten Manfred Honeck. Williams stellte eine virtuose Hypothese auf, wie Strauss mit heutigen Mitteln und Instrumentarium komponieren würde. Das kurze Opus könnte seinen erfolgreichen Lauf durch die Konzertsäle machen. Die Symphoniker modellierten aus allen Strauss-Stücken des Abends prägnante Charakterbilder, während die Philharmoniker nicht nur im Donauwalzer Vorliebe für paradiesische Elegien zeigen.
Finale des Marathons: Einerseits Anne-Sophie Mutter in sechs Minuten zum Niederknien mit Rosalindes Csárdás aus der „Fledermaus“ im Arrangement von Manfred Honeck und Tomáš Ille. Das Publikum zeigte, dass auch Stücke des Walzerkönigs eine ernste Angelegenheit sind. Bei der ironischen „Banditen-Polka“ über die Ankündigung eines Raubüberfalls mit den von der Empore mitgestochener Brillanz singenden Wiener Sängerknaben verzog man im Musikverein kaum eine Miene.

Ausblick auf den Rest des Festjahres
Auch in den letzten 75 Tagen des Strauss-Festjahres folgen ungewöhnliche Akzente, so die Märchenoperette „Aschenbrödels Traum“ von Axel Ranisch und Martina Eisenreich nach Strauss‘ unvollendetem Ballett. Geyer erreichte seine Ziele von Pluralismus und Teilhabe mit Mut zu unvermeidlichen Lücken: Neue Impulse durch den Walzerkönig für eine urbane Gesellschaft.
So gab die Reihe von Musiktheater-Werken inklusive des von Thomas Brezina und Johnny Bertl neu erfundenen Zirkusspektakels „Cagliostro“ im September eine Enzyklopädie aktueller Inszenierungsmethoden – inklusive Risiken bei aus woker Perspektive zwielichtigen Operettensujets.
Gleichzeitig erbringt das Johann-Strauss-Festjahr den plausiblen Beweis dafür, dass Intimitätskoordination und moralischer Anspruch zwar wichtig, aber ohne echtes Können nur die halbe Miete sind – gerade in der Operette, wo Begehren, Erfüllung, Dreistheit und Koketterie oft fließend sind.
Volksoper Wien
Johann Strauss: Eine Nacht in Venedig
Darüber hinaus: Sammelbesprechung einiger Highlights des Festjahres Johann Strauss 200
Alexander Joel (Leitung), Nina Spijkers (Regie), Studio Dennis Vanderbroeck (Bühne), Jorine van Beek (Kostüme), Florian Hurler (Choreographie), Tim van’t Hof (Licht), Roger Díaz-Cajamarca, Holger Kristen (Chor), Magdalena Hoisbauer, Sophie Jira (Dramaturgie), Lucian Krasznec (Guido, Herzog von Urbino), Marco Di Sapia (Delacqua), Nicolaus Hagg (Stefano Barbaruccio), Ursula Pfitzner (Giorgia Testaccio, Senatorin), Ulrike Steinsky (Barbara), Carin Filipčić (Agricola), Martina Dorak (Constantia), Johanna Arrouas (krank: Lauren Urquhart) (Annina), David Kerber (Caramello), Jakob Semotan (Pappacoda), Juliette Khalil (Ciboletta), James Park (Enrico Piselli), Gabor Oberegger (Centurio), William Briscoe-Peake (Balbi), Tanz-Ensemble, Chor und Orchester der Wiener Volksoper
Mi, 29. Oktober 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
J. Strauss (Sohn): Eine Nacht in Venedig
Johann Strauss 2025 Wien
Sa, 01. November 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
J. Strauss (Sohn): Eine Nacht in Venedig
Johann Strauss 2025 Wien
Sa, 08. November 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
J. Strauss (Sohn): Eine Nacht in Venedig
Johann Strauss 2025 Wien
Di, 18. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
J. Strauss (Sohn): Eine Nacht in Venedig
Johann Strauss 2025 Wien
Mo, 24. November 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
J. Strauss (Sohn): Eine Nacht in Venedig
Johann Strauss 2025 Wien



