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Ballett-Kritik: Grand Théâtre de Genève – Mirage

Vom Werden der Welt

(Genf, 9.5.2025) Die düster mystische, elementar archaische, wuchtig an die Nieren gehende Kreation „Mirage“ des belgisch-französischen Choreografen Damien Jalet gleicht einem Tanztheater, das den Aufbruch in die Freiheit wagt – und gerade damit an die absolute Essenz des Lebens heranrührt.

vonPeter Krause,

Es wummert so abgrundtief bassig aus den Lautsprechern, dass es an die Eingeweide geht. Was bei Richard Wagner einst sein legendäres, von den Kontrabässen intonierten urgründiges Es war, das aus des Rheines Tiefen emportönte, um dann vom allmählichen Werden der Welt zu künden, das ist im 21. Jahrhundert bei der Tanz-Kreation „Mirage“ von Damien Jalet am Grand Théâtre de Genève ein mindestens so wuchtiger, rein elektronisch erzeugter Klang des archaischen Beginns von Leben. Was Kohei Nawa als kongenialer Bühnenbildpartner des belgisch-französischen Choreografen dazu als eine Art allererstes Morgenrot der Menschheit ersonnen hat, ist sogleich so magisch, wie es der gesamte Abend sein wird, der zwar rein objektiv chronometrisch gemessen nicht viel mehr als eine Stunde dauert, aber die ganz große elementare Erzählung der Menschwerdung wagt.

Szenenbild aus Damien Jalets „Mirage“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus Damien Jalets „Mirage“ am Grand Théâtre de Genève

Alttestamentarische Grundsätzlichkeit

Wüst und leer – und damit von durchaus alttestamentarischer Grundsätzlichkeit – ist die Stimmung im von viel Nebel umwehten Beginn. Eine einzelne, nur schemenhaft erkennbare Figur löst sich von der steil und doch rund wie eine Skaterbahn ansteigenden Ebene, die Kohei Nawa ausreicht, um die monströs monumentale Wucht des Abends visuell ein für allemal bildlich zu setzen. Eine zweite Figur löst sich alsbald aus dem Dunst, ertastet wie die erste langsam das Neuland dieser Erde. Bald sind es fünf Menschen, dann acht, dann das gesamte Ensemble der Tänzerinnen und Tänzer der Ballettcompagnie des Grand Théâtre. Eine direkte Interaktion zwischen den offensichtlich ins Leben Geworfenen gibt es zunächst nicht.

Erst allmählich gleichen sich die Schritte an, entdeckt man wechselseitige Anziehung und Abstoßung durch die Energiefelder der diversen Körper, die sich nun erstmals zu Gruppen formen. Man lernt, Beziehungen einzugehen. Die Gemeinschaft als ein zusammen atmender Organismus, die sich jetzt wie ein Knäuel bildet, gleicht einer überdimensionalen Qualle, die sich im ruhigen Anheben und Zurückweichen fortbewegt. Das perkussive Stampfen und Dröhnen des Elektro-Sounds begleitet nun das Herauslösen von Einzelnen aus der Gruppe exakt bis zum kollektiven Freeze.

Die immerwährende Verwandlung

Auch der Bühnennebel scheint sich nun zum Schnee zu transformieren, der die Tanzenden unter sich begräbt. Ein einzelner Sisyphos krabbelt aus dem vereisten Umfeld an den oberen Rand des Halbrunds. Und erstmals ereignet sich das spezifische Mysterium von „Mirage“ als jene Spiegelungen und Fata Morgana-Effekte, die magisch zu nennen einer Untertreibung gliche. Wie Yukiko Yoshimoto hier als Meisterin des Lichts gezaubert hat, dürfte wohl selbst für Eingeweihte ihrer Kunst ein Geheimnis bleiben. Man will es gar nicht so genau wissen, wie das alles gemacht ist, möchte einfach nur wie ein Kind darüber staunen, was da alles zu sehen ist. Und die immerwährende Verwandlung geht weiter. Allmählich finden die Figuren wieder zueinander, deren Körper sich nun transformieren zu selten Spezies von schleimigen Wesen, die wie ein Oktopus mit seinen Tentakeln gänzlich biegsame Körper besitzen. Von oben regnet es nun Glitzer-Staub in verschiedenen Farben wie warmer tropischer Regen auf die Schleimwesen.

Passend dazu wandelt sich die vorherige Techno-Härte von Thomas Bangalters Musik nun zu einem nachgerade intimen Glöckchen-Punk. Die kontinuierliche Metamorphose von „Mirage“ führt jetzt erstmals zu genuinen Zweierkonstellationen, die freilich Pas de Deux zu nennen ein Frevel wäre. Wirbellosen Schlangenkörpern gleich umschlingen sich die tänzerischen Körper der Compagnie, werden zu einer wilden Gemeinschaft, die sich mitunter zu einer Gruppe formiert, die wie ein überdimensionierter Käfer mit rundem Rücken aussieht. Ob so einst die ersten menschlichen Versuche einer im Kollektiv praktizierten Erotik aussahen?

Szenenbild aus Damien Jalets „Mirage“ am Grand Théâtre de Genève
Szenenbild aus Damien Jalets „Mirage“ am Grand Théâtre de Genève

Die vaginale Himmelsleiter ins Licht

Ein (mutmaßlich) weibliches Wesen – klassische Geschlechterrollen scheint es in dieser menschlichen Urgemeinschaft, wie Damien Jalet sie sich und uns vorstellt, (noch) nicht zu geben – löst sich aus der Gruppe, will hinaus und hinauf ins Licht. Sie, er, wer auch immer könnte eine Art Buddha sein, Erlöserin, Erlöser der Welt mit garantiert gutem und heißem Draht nach oben. Die Himmelsleiter ins Licht aber stellt sie, er, es freilich nicht allein dar oder her. Das gesamte Ensemble vereint sich nun wieder mit dem aufstrebenden Einzelwesen, mutiert zu einer Riesenkrake, die das ganze Bühnen-Halbrund bis nach oben einnimmt und sich gleichsam vaginal zu öffnen und zu schließen scheint. Das schwere pochende Atmen der Elektro-Musik von Thomas Bangalte vereint sich ideal mit der Finalvision des Tanzes.

Es könnte wohl noch ewig so weitergehen, die choreografische Fantasie von Damien Jalet jedenfalls kennt mit Sicherheit so wenig Grenzen wie jene von Kohei Nawa, Thomas Bangalter, Yukiko Yoshimoto und Kunihiko Morinaga, der für die Kostüme verantwortlich zeichnet. Doch es ist nach dieser düster mystischen, dieser elementar archaischen, dieser wuchtig an die Nieren gehenden Stunde dann doch einfach alles gesagt. In einem Tanztheater, das garantiert keine klassischen Schrittfolgen mehr benötigt, sondern den Aufbruch in die Freiheit wagt – und gerade damit an die Essenz des Werdens und Vergehens von Leben heranrührt.

Die Genfer Uraufführungsproduktion wandert weiter an die koproduzierenden Institutionen, zu denen in Deutschland die Hamburger Kulturfabrik Kampnagel gehört, zudem europaweit das Festspielhaus St. Pölten, Charleroi Danse, Centre chorégraphique de Wallonie-Bruxelles, Centro de Danza Matadero-Madrid sowie Maison de la Danse, Lyon – Pôle européen de création.

Grand Théâtre de Genève
Jalet/Nawa: Mirage

Damien Jalet (Konzept & Choreographie), Kohei Nawa (Konzept & Bühne), Thomas Bangalter (Musik), Yukiko Yoshimoto (Licht), Kunihiko Morinaga (Kostüme), Aimilios Arapoglou (choreographische Beratung), Florent Dubois (Video), Ballett des Grand Théâtre


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