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Interview Sol Gabetta

„Sie war sicher eine Art Rebellin“

Lise Cristiani ist der neue Stern am Himmel von Sol Gabetta. Die Cellistin wandelt auf den Spuren einer großen Künstlerin.

vonSören Ingwersen,

Sol Gabetta spielt auf drei verschiedenen italienischen Meisterinstrumenten aus dem 18. Jahrhundert. So mancher Solist dürfte sie darum beneiden. Doch ein Stradivari-Cello, das in der Kutsche quer durch Sibirien gereist ist, hat es ihr ganz besondern angetan.

Mit Ihrem neuen Album und dem dazugehörigen Konzertprogramm beziehen Sie sich auf eine heute weitgehend unbekannte Cellistin in der ersten Hälfte de 19. Jahrhunderts. Wie sind Sie auf Lise Cristiani aufmerksam geworden?

Sol Gabetta: Schon mit zwölf Jahren tauchte ich unter der Anleitung meines Lehrers Ivan Monighetti in Madrid in die Welt von Adrien-François Servais ein. Seine Stücke, die auch Lise Cristiani so sehr liebte, glänzen nicht nur durch ihre Virtuosität, sondern spiegeln auch die erstaunliche Entwicklung des Cellos im 19. Jahrhundert wider – ein Instrument, das plötzlich zu singen, zu fliegen und Geschichten zu erzählen begann. Mendelssohn komponierte sein „Lied ohne Worte“ für die junge Cellistin, und so bin ich auf sie aufmerksam geworden. Sie ist eine faszinierende Gestalt, geheimnisvoll und von Rätseln umhüllt. Meine intenstive Beschäftigung mit Lise Cristiani begann, als ich etwa in dem Alter war, in dem Cristiani selbst gestorben ist. Informationen über sie zu finden, war wie das Aufspüren eines verborgenen Juwels.

Was ist so besonders an dieser Cellistin?

Gabetta: Cristiani selbst war eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Stärke. Als erste Frau, die solistisch mit dem Cello auftrat, strahlte sie eine Eleganz und Unabhängigkeit aus, die man heute bewundern und fast ein wenig beneiden kann. Sie war eine der ersten wirklich emanzipierten Musikerinnen und ihre Musik, ihr Mut und ihr Geist lassen uns noch heute von ihr träumen.

Warum kennt man ihren Namen dann heute nicht mehr?

Gabetta: Cristianis außergewöhnliche Leistung wird oft unterschätzt – doch das hat nichts mit mangelnder Reife oder Können zu tun. Sie trat bereits in jungen Jahren regelmäßig auf, spielte mit wichtigen Musikern zusammen und gewann mit Charme und Virtuosität ihren Platz in der Musikszene. Dass ihr Name heute kaum noch bekannt ist, liegt vielmehr daran, dass sie jung starb – gerade 27 Jahre alt – und dass sie als Frau in einer Zeit wirkte, in der die Musikwelt männlich dominiert war. Hinzu kommt, dass sie hauptsächlich als Interpretin und nicht als Komponistin tätig war. Namen von Künstlerinnen, die nicht selbst komponierten, geraten in der Musikgeschichte oft schneller in Vergessenheit, egal wie groß ihr Talent oder ihre Karriere war. Trotz all dieser Hindernisse schaffte Cristiani es, sich mit ihrem Können, ihrer Präsenz und ihrem Mut eine bemerkenswerte Karriere aufzubauen und sich einen bleibenden Platz in der Musik ihrer Zeit zu sichern.

Warum realisieren Sie das Projekt erst jetzt?

Gabetta: Für alles gibt es seinen richtigen Zeitpunkt – und dieser Moment musste erst heranreifen. Cristianis anspruchsvolles Repertoire erfordert Zeit und Aufmerksamkeit, um es auf dem Niveau zu erarbeiten, das es verdient. Außerdem sind die Partituren alles andere als leicht zu finden. Um die Musik, die Person und die Epoche wirklich zu erforschen und zum Leben zu erwecken, braucht es Geduld, Leidenschaft und ein bisschen detektivisches Talent. Jetzt war endlich der Moment gekommen, all das zusammenzuführen  und das Ergebnis ist jede Mühe wert.

Ging es dabei nur um Virtuosität?

Gabetta: Natürlich geht es nie nur um Virtuosität. Gerade bei Cristiani stand nicht das bloße Beeindrucken im Vordergrund, sondern ihr Charme, ihr Ton und ihre Musikalität. In ihrer Zeit fanden viele Salonkonzerte in kleinen, intimen Räumen statt, doch langsam entwickelte sich die Konzertkultur hin zu größeren Aufführungen – die Musikwelt befand sich im Umbruch. Ähnliches erleben wir heute: Wir suchen neue Konzepte für Konzerte, möchten das Publikum berühren und Konzerte tiefgründig, emotional und beweglich gestalten.Auf unserem Album spiegeln sich beide Aspekte wider: die Virtuosität der Komponisten, die sich auf der Bühne exponierten, und die Werke, die Cristiani besonders am Herzen lagen. Darunter Jacques Offenbach, Gioachino Rossini, Alexandre Batta und natürlich Adrien-François Servais. Es geht also immer um mehr als reine Technik; es geht um Ausdruck, Präsenz und die Fähigkeit, eine ganze Welt von Emotionen zu vermitteln.

Lise Cristiani hat sich nicht nur den künstlerischen, sondern auch den organisatorischen Herausforderungen gestellt, indem sie ihre Konzerte selbst veranstaltet hat …

Gabetta: Auch in dieser Hinsicht habe ich mich ihr angenähert. Es geht weniger um Kontrolle, sondern um ein Konzept, in dem alle Aspekte zusammengedacht werden. Normalerweise hat ein Künstler nur einen kleinen Ausschnitt im Blick. Für mich ist es jedoch genauso spannend und bereichernd, den gesamten Prozess mitzugestalten, von der Idee über die visuelle Umsetzung bis hin zur Konzertrealisierung. So taucht man völlig in die Materie ein und erlebt das Projekt in seiner ganzen Tiefe.

Das klingt nach einem Sprung ins kalte Wasser …

Gabetta: Wir haben vorab schon zwei Prototyp-Konzerte gegeben, aber gleichzeitig gemerkt, wie schwierig es ist, ein stimmiges Konzept zu entwickeln. Noch eine Stunde vor Beginn haben wir das Repertoire geändert. Solche Erfahrungen zeigen, dass Planung und Flexibilität Hand in Hand gehen müssen.

Sol Gabetta ergründet mit Geduld, Leidenschaft und detektivischem Talent das Schaffen der Cellistin Lise Cristiani
Sol Gabetta ergründet mit Geduld, Leidenschaft und detektivischem Talent das Schaffen der Cellistin Lise Cristiani

Noch einmal zurück zur Person Lise Cristiani. Sie tourte allein durch Europa, später sogar bis nach Sibirien, und war ausgesprochen mutig. Auch Tabus hat sie gebrochen, galt eine Frau am Cello Mitte des 19. Jahrhunderts doch als skandalös. Spielt bei Cristianis Erfolg auch die Sensationslust eine Rolle?

Gabetta: Cristiani war sicher eine Art Rebellin. Als sie in Russland krank wurde, riet man ihr, zurück nach Paris zu reisen. Doch sie wollte weiter nach Sibirien, wo sie schließlich an der Cholera starb. Sie suchte stets die Herausforderung und gab schon mit 20 Jahren Konzerte in Wien, Leipzig und anderen großen Städten. Überall sprach man über sie, weniger über ihre Technik oder Virtuosität, als über ihren starken Ausdruck und die Faszination, die von ihr ausging.

Es gab zu ihrer Zeit aber auch andere große Musikerinnen wie Fanny Hensel oder Clara Schumann …

Gabetta: Aber Cristiani hatte keinen berühmten Bruder oder Ehemann, der ihr den Weg ebnete. Sie war ein uneheliches Kind, ganz auf sich gestellt, und musste ihre eigene Identität finden. Mit ihrem Stradivari-Cello reiste sie bei minus 40 Grad in Kutschen quer durch Europa bis ans andere Ende der Welt. Das grenzt an Wahnsinn. Doch sie lebte für ihre Überzeugung und wollte vor Menschen spielen, die vielleicht noch nie Musik gehört hatten.

Eine frühe Musikvermittlerin, die durch die Dörfer zog, um die Landbevölkerung zu begeistern?

Gabetta: Richtig.

Ein Wunder, dass Cristianis Stradivari-Cello noch existiert, angesichts ihrer abenteuerlichen Reisen. Heute ist es im Museo del Violino in Cremona ausgestellt. In der TV-Dokumentation „Mit dem Cello ans Ende der Welt“ sieht man Sie kurz darauf spielen. Werden Sie es sich einmal für ein Konzert ausleihen?

Gabetta: Ich hoffe es sehr. In den letzten zehn Jahren habe ich wiederholt bei der Stiftung Walter Stauffer, die das Cello besitzt, angefragt. Es ist versicherungstechnisch kompliziert, und das Instrument darf nur in Cremona gespielt werden. Also müssten alle Musiker dorthin reisen. Aber der Klang ist wirklich außergewöhnlich – es hat ein unglaubliches solistisches Potenzial, trotz der 170 Jahre, in denen es kaum gespielt wurde.

Aktuelles Album:

Album Cover für Lise Christiani

Lise Christiani

Werke von Schubert, Donizetti, Offenbach u. a.

Sol Gabetta (Violoncello), Victor Julien-Laferrière (Violoncello), Irina Zahharenkova (Klavier), Cappella Gabetta
Sony Classical

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