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Interview: Jonas Kaufmann über sein neues Album „Doppelgänger“

„Meine Seele hat über die Jahre viele Narben gesammelt“

Jonas Kaufmann offenbart auf seinem neuen Album „Doppelgänger“ gleich mehrere Versionen seiner selbst: den Liedsänger, das Bühnen-Ego und sein jüngeres Ich.

vonAndré Sperber,

Herr Kaufmann, man sagt, jeder Mensch habe irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger. Ist Ihnen Ihrer schon begegnet?

Jonas Kaufmann: Nicht direkt. Aber in gewisser Weise begegnet er mir ständig – nämlich in meinen Rollen. Für mich ist eine Figur nur dann glaubwürdig, wenn auch ein Stück von mir selbst darin steckt. Gute wie schlechte Eigenschaften. So gesehen sind alle meine Opernfiguren kleine Doppelgänger, die das Publikum vielleicht für Jonas Kaufmann hält – in Wahrheit sind sie eine Mischung aus mir und der Rolle.

Ihr neues Album vereint Schumanns „Dichterliebe“ und die „Kerner-Lieder“ auf CD und Schuberts „Schwanengesang“ auf DVD. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Bündelung?

Kaufmann: Ganz pragmatisch: Während der Pandemie haben wir drei Liederalben aufgenommen, das dritte – „Dichterliebe“ und „Kerner-Lieder“ – war schon fertig, wurde aber zurückgehalten. Gleichzeitig entstand in New York „Doppelgänger“ mit Claus Guth – übrigens eine der intensivsten Arbeiten meines Lebens. Da stand die Frage im Raum: veröffentlichen wir eins oder doch das andere? Schließlich entdeckte ich zufällig im Archiv meine alte Liveaufnahme der „Dichterliebe“. Und da dachte ich: Das ist ja auch ein Doppelgänger von mir selbst. So war die Kombination perfekt.

Die Lockdown-Aufnahmen haben Sie einmal als „Hausmusik“ beschrieben. Wie war diese Erfahrung für Sie?

Kaufmann: Natürlich war die Zeit voller Unsicherheit. Aber ich hatte das Glück, viel mit meiner Familie zusammen zu sein. Wir haben die Aufnahmen tatsächlich zu Hause gemacht – mit Technikern im Gästezimmer, ich im Konzertraum, Catering auf der Terrasse und alles über Interkom. Es war völlig anders als sonst: kein Zeitdruck, keine gebuchten Hotels, kein Fliegen. Wir konnten einfach musizieren, bis es sich richtig anfühlte. Genau das war das Besondere: es klang frei, gelöst – eben wie Hausmusik.

Sie nennen die „Dichterliebe“ ein Unikat der Liedliteratur. Was macht diesen Zyklus für Sie so einzigartig?

Kaufmann: Die Verbindung von Heines Texten mit Schumanns Musik ist schlicht genial. Diese Mischung aus Leichtigkeit, Zartheit, aber auch Bitterkeit und Tiefe – in so konzentrierter Form, in gerade einmal 25 Minuten. Das findet man sonst kaum in einem Liedzyklus.

Auf dem Album hört man in den Bonus-Tracks von 1994 auch den jungen Jonas Kaufmann. Wie war es für Sie, diese Aufnahme wieder zu hören?

Kaufmann: Ich musste sehr lachen, weil es so anders ist. Helmut Deutsch, mein Pianist, hat mich auf der Aufnahme nicht erkannt, meine Frau erst beim dritten Lied. Die Stimme klang so hell, unreif – fast nicht wiederzuerkennen. Aber ich war stolz, dass ich mich schon damals an ernsthaften Interpretationen versucht habe und nicht nur damit beschäftigt war, irgendwie durchzukommen.

Wie hat sich Ihre Interpretation seitdem verändert?

Kaufmann: Heute habe ich viel mehr Erfahrung – musikalisch wie im Leben. Ich sage gern: Meine Seele hat über die Jahre viele Narben gesammelt. Das färbt auf die Interpretation ab. Früher war da mehr Unbeschwertheit, heute ist es direkter, intensiver, auch verletzlicher.

Helmut Deutsch (l.) und Jonas Kaufmann verbindet seit langem eine künstlerische Freundschaft
Helmut Deutsch (l.) und Jonas Kaufmann verbindet seit langem eine künstlerische Freundschaft

Kommen wir zu Schubert: Sie haben den „Schwanengesang“ lange nicht gesungen. Warum?

Kaufmann: Es ist kein Zyklus wie „Winterreise“ oder „Müllerin“, sondern eine Sammlung großartiger Einzellieder. Die Zusammenfassung unter dem Titel „Schwanengesang“ war damals lediglich die Idee eines Verlegers, der besser verkaufen wollte. Deshalb habe ich mich gescheut, sie zusammenhängend aufzuführen. Erst mit Regisseur Claus Guth entstand in New York ein überzeugendes Konzept – eine Geschichte um einen verwundeten Soldaten im Lazarett, zwischen Traum, Fieberwahn und Tod. Da bekam jedes Lied seinen Platz, es entstand eine Dramaturgie. Es war eine unglaubliche Erfahrung.

Die Aufführung fand in der riesigen Park Avenue Armory statt. Passen Schuberts intime Lieder überhaupt in so eine Halle?

Kaufmann: Allein akustisch wäre das unmöglich gewesen – die Bühne einfach zu groß. Also haben wir mit elektronischer Verstärkung gearbeitet, schon weil Publikum und Bühne so weit auseinander lagen. Anfangs hatte ich große Bedenken, ob die Intimität verloren geht. Aber technisch war es großartig umgesetzt. Und die Wirkung war überwältigend – die Leute haben Rotz und Wasser geheult.

Sollte man Liederzyklen öfter inszenieren wie eine Oper?

Kaufmann: Ja und nein. Reine Liederabende sind heute ein schwieriges Format, das Publikum dafür ist kleiner geworden. Eine Inszenierung, wenn sie gut gemacht ist, kann Türen öffnen und neue Menschen für diese Kunstform gewinnen. Aber natürlich muss man aufpassen, nicht alles zu „veroperalisieren“. Die Balance ist wichtig.

Könnten Sie sich vorstellen, selbst einmal Regie zu führen?

Kaufmann: Die Lust wäre da, aber: keine Zeit, wahrscheinlich auch nicht die nötige Begabung – und außerdem habe ich eine Frau, die Regisseurin ist. Da will ich lieber keinen häuslichen Konkurrenzkampf riskieren. (lacht)

Album-Tipp:

Album Cover für Doppelgänger

Doppelgänger

Schumann: Dichterliebe op. 48 & Kerner-Lieder op. 35 (CD),
Schubert: Schwanengesang D 957, Herbst D 945 & Andante sostenuto aus Klaviersonate B-Dur D 960 (DVD)

Jonas Kaufmann (Tenor), Helmut Deutsch (Klavier), Jan Philip Schulze (Klavier), Claus Guth (Regie)
Sony Classical

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