Dem Märchen schreibt man ja im Allgemeinen eine Tendenz zur Verbesserung der Welt zu: Zwar gibt es darin normalerweise viel Böses, am Schluss aber gewinnt das Gute. So geschieht es in „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck, nicht hingegen in seiner Märchenoper „Königskinder“. Deshalb gilt sie auch als Märchen für Erwachsene.
Den Text dazu verfasste Elsa Bernstein unter dem Pseudonym Ernst Rosmer. Geboren 1866 in Hamburg, wuchs Bernstein in München auf, „erzogen inmitten des künstlerischen Krieges für das neue Musikdrama Richard Wagners“, wie sie es selbst formulierte. Mit ihrem Mann, dem jüdischen Rechtsanwalt und Theaterkritiker Max Bernstein, führte sie in den 1890er Jahren – nach seinem Tod dann mit Schwester Gabriele – in München einen Salon, in dem sich Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Wissenschaft trafen, unter ihnen Hugo von Hofmannsthal, Theodor Fontane, Gerhart Hauptmann, Richard Strauss und Thomas Mann. Um 1900 war sie eine viel gespielte Bühnenautorin. Ihr Märchendrama „Königskinder“ fand den Weg auf 130 Bühnen und wurde fast 200 000 Mal als Buch verkauft.
Engelbert Humperdinck wollte erst lediglich einige Lieder zu diesem Stück beisteuern, gestaltete es dann zu einem Melodram aus, das 1897 in München gespielt wurde. Der Stoff ließ ihn indes nicht los, und weil er spürte, dass er abendfüllendes Potential enthielt, arbeitete er ihn schließlich zu einer Oper in drei Aufzügen um. Diese wurde 1910 in New York an der Met unter der Leitung von Alfred Hertz uraufgeführt. Sie kam gut an, geriet im Lauf der Jahre trotzdem einigermaßen in Vergessenheit, vielleicht weil man schon nach dem Ersten Weltkrieg die Freude an solchen Kunstmärchen im Stil des Fin de Siècle verlor. Oder vielleicht, weil es gar zu traurig war?
Der Anfang immerhin ist fast klassisch: Die Gänsemagd mit dem goldenen Haar (in Wirklichkeit eine entführte Königstochter) wird im Wald von einer Hexe festgehalten, die behauptet, sie wäre ihre Großmutter. Ein Königssohn wandert vorbei und verliebt sich in das Mädchen. Die grimmige Hexe weiß zu verhindern, dass er sie mit sich nimmt. Zum Abschied lässt er der Gänsemagd seine Krone da. Seines Lebens freilich wird er nicht mehr richtig froh. Mit der Thronfolge klappt es nach dem Tod seines Vaters auch nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Er muss durch die Welt ziehen, verdingt sich sogar als Schweinehirt.
Der Antipode der Hexe ist ein Spielmann, der vor allem das Schöne im Menschen sieht, während sie, womöglich durch ganz andere Erfahrungen, überall Gemeinheit und Verrat fürchtet. Zwischen Wald und Stadt, Hütte und Palast findet schließlich eine Tragödie statt, in der die Königskinder zwar zueinander kommen, aber nur im Tod, während der Schnee auf sie fällt und alle Sorgen und Nöte zart und weiß zudeckt. Nicht alle jedoch – denn die Vorurteile einer Gesellschaft, die in der angeblichen Gänsemagd und dem vermeintlichen Schweinehirten nicht erkennen kann, wer die beiden wirklich sind und bloß nach Äußerlichkeiten urteilt, werden bestehen bleiben, bis zum bitteren Ende. Nur die kleine Tochter des Besenbinders weiß es besser, als die zwei wütend aus der Stadt gejagt werden: „Das ist der König und seine Frau gewesen!“ (Irene Bazinger)