Elf Jahre nach seiner Einspielung des ersten Bandes des „Wohltemperierten Klaviers“ hat Pierre-Laurent Aimard den Bach-Faden wieder aufgegriffen und legt nun das zweite Volume mit den 24 Präludien und Fugen BWV 870–893 vor. In Anbetracht von Aimards vordergründigem Wirken als Interpret von Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ist das durchaus ein Ereignis. Der französische Pianist wählt keinen zyklischen Ansatz, sondern begreift die einzelnen Paare als Charakterstücke, die es individuell auszuleuchten gilt. Strukturell ist das ohnehin durch den Formenreichtum mit Inventionen, Toccaten und diversen barocken Tanzsätzen gegeben. Das fängt beim variablen Einsatz der Tontechnik an: Die Mikrofone sind mal ganz nah, mal weit weg vom Resonanzkörper positioniert, auch die Balance ist bewusst heterogen. So entsteht eine enorme Bandbreite an grundlegenden Klangeindrücken – gedämpft, hallig, schlank, scharf, warm, rund –, die beim ersten Hören gleichsam für Überraschungen sorgt.
Auf der pianistischen Seite schickt sich Aimard mit makelloser Artikulation und feinsinniger Phrasierung an, dem modernen Flügel bisweilen die Klangfarben anderer Instrumente zu entlocken, darunter Cembalo, Fortepiano und sogar Orgel (die Fugen in E-Dur und H-Dur könnten auch Choralvorspiele sein). Der Kontrapunkt gerät stets transparent und oftmals erstaunlich gesanglich. Eine moderne und erfrischende Sicht auf den gern vernachlässigten Höhepunkt bachscher Tastenkunst.
J. S. Bach: Das wohltemperierte Klavier Band 2
Pierre-Laurent Aimard (Klavier)
Pentatone



