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Reportage: Opernfestspiele Arena di Verona

Wo Gladiatoren kämpften

In der Arena di Verona verschmelzen antike Baukunst und romantische Oper zu einem unvergleichlichen Erlebnis.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Wer sich von Illusionen trennt, wird zwar weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben, sagte einst Mark Twain. Verona ist der perfekte Ort für Illusionen. Stadt von Romeo und Julia, deren Geschichte zum Symbol für die ewige Liebe wurde. Der Legende nach soll Julia Capulet in Shakespeares Drama von 1596 mit ihrer Familie in der Casa di Giulietta in der Via Cappello Nr. 23 gelebt haben. Tatsächlich war das Gemäuer aus dem 13. Jahrhundert ursprünglich ein Stall. Auch der berühmte Balkon ist eine Finte. 

Julias Balkon und Grab sind eine Finte

1935 hatte der findige Antonio Avena, seinerzeit Direktor der Museen in Verona, einen halben Sarkophag (!) aus dem 14. Jahrhundert an das Gebäude kleben lassen, als Kulisse sozusagen, auf dem Julia sich von Romeo anschmachten lassen kann. Dabei steht sie in Shakespeares Drama von 1596 an einem Fenster. Balkone waren in Verona zu der Zeit nicht üblich. Für Julias vermeintliches Grab wandelte Avena einen banalen Keller kurzerhand in eine Krypta um. Seitdem überfluten Millionen Touristen die nur 258 000 Einwohner zählende Stadt, posieren für Instagram vor dem Balkon und vor der bronzenen Julia-Statue im Hof. Die rechte Brust ist schon ganz abgegriffen. Das soll Glück in der Liebe bringen. Bei 25 Euro Eintritt. 

Die schönsten (gesungenen) Märchen aber finden seit 1913 nicht weit von hier in Veronas spektakulärer Arena statt. Heute steht Giacomo Puccinis Märchenoper „Turandot“ von 1924 in Franco Zefirellis Inszenierung von 2010 auf dem Programm. Es ist 18 Uhr. Obwohl die Oper erst nach 21 Uhr beginnt, drängeln sich jetzt schon Tausende mit Billig-Tickets (etwa 20 Euro, ohne festen Sitzplatz) vor den vielen Eingängen (insgesamt 64 sollen es sein) des Amphitheaters. Kondition und Schnelligkeit sind hier angesagt, um auf der »Gradinata non numerata« am oberen Ende der Arena den besten Platz zu ergattern. 45 Stufenränge gilt es zu überwinden, die jeweil aus 45 Zentimeter hohen Gesteinsblöcken bestehen. Vomitorien wurden übrigens die Zugänge früher genannt, durch die sich jetzt die vielen Menschen zwängen. Der unappetitliche Name, der sich vom lateinischen Verb „vomere“ (erbrechen, ausspeien) ableitet, rührt daher, weil von innen, also der Arena, heraus der Eindruck entstand, dass die Zuschauermassen wie „ausgespuckt“ in das Amphitheater strömten. 

Den Appetit aber lassen sich die „Unnummerierten“ nicht verderben. Mit Kühlboxen wird das Revier gesichert. Partystimmung ist hier in etwa 24 Meter Höhe angesagt, wie der Kollege, der seit Kindesbeinen die Opernfestspiele in Verona kennt, erzählt. Da nimmt man gerne in Kauf, dass man, wie einst die alten Römer, auf blankem Stein ohne Lehne mitunter Stunden in der Hitze bei viel Vino und Aqua minerale ausharren muss bis zum Beginn der Vorstellung. Poltrona, Poltronissima in Silber, Gold und Platin nennen sich die Preis-Kategorien. Mindestens 13 gibt es in der gewaltigen Arena, die um die 15 000 Zuschauer fasst. Besonders begehrt ist Reihe 1 im Parkett (weit über 300 Euro) – mit der 1 500 Quadratmeter großen Bühne auf Augenhöhe und dem nur einen Meter tiefer liegenden Orchestergraben. Hier hat man das Gefühl, buchstäblich ein Teil der Oper zu sein. Gute Sicht soll man auch von der 16. Reihe haben. Einer muss nie zahlen: Giancarlo Soave. „Il capo claque“ wird der fast Neunzigjährige respektvoll von Medien genannt. Davon später. Wir haben nummerierte Tribünen-Plätze (mit Sitzkissen und Lehne!) und können uns etwas Zeit lassen – beim Prosecco in einem der vielen Cafés der Piazza Bra. 

In ihrem Herzen fließt die Etsch: Verona zählt zu den schönsten Städten Norditaliens
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Kurzen Hosen, Unterhemden und Flip-Flops unerwünscht

Es ist es kurz vor 21 Uhr. Die blaue Stunde ist angebrochen. Der dritte Gong hat geschlagen. Allmählich findet sich die „Hautevolee“ im „Parkett“ ein, genau dort, wo vor 2 000 Jahren viel Blut bei Gladiatoren-Kämpfen, Tierjagden und Hinrichtungen vergossen wurde. Wie einst bei den Gladiatoren liebt auch die heutige gestylte Gesellschaft den Auftritt in der Manege. Große Abendrobe, mitunter Smoking schon fast ein Muss. Männern in kurzen Hosen, Unterhemden und Flip-Flops wird der Zutritt verweigert. Ob die Absätze der teuren Designer-Sandaletten den unebenen Steinboden überstehen? Wen kümmert es. Es zählt der Moment. Großartig!

Das wahre Märchen kann nun beginnen. Nach und nach sind fast alle Scheinwerfer erloschen. Nur noch „l’ala“, der vierbogige Flügel, den das Erdbeben von 1117 von den ursprünglich 72 Bögen des Außenrings verschonte, ist zu erkennen. Tausende von Lichtpünktchen flackern nun in der Dunkelheit auf, vom Parkett bis in die höchsten Ränge. Ein Ritual aus alten Zeiten, als es noch keinen Strom gab. Wer sein Libretto lesen wollte, brachte eine Kerze mit. 

Mögen (deutsches) Regietheater-affine Kritiker pompöse Inszenierungen wie die von Zeffirelli nur naserümpfend mit einem Zweizeiler abspeisen, weil zu wenig Tristesse und Gesellschaftskritik. Eines müssen sie ihm zugestehen: Er verstand etwas von Magie. Prächtige, bunte Kostüme von Oscarpreisträgerin Emi Wada, ein goldener Palast im zweiten Akt, zahlreiche Statisterien, spektakuläre Choreografien lassen die Atmosphäre des alten Peking wieder aufleben. „Keiner schlafe“ („Nessun dorma“), schmettert Prinz Calaf (Yusif Eyvazov). Mehr noch als all die Farb-, Licht- und Klangpracht ist es das Leise, die zart-gläsernen Pianissimi von Mariangela Sicilia als Liù, das überwältigt. Unter freiem Himmel, ohne Mikrofon oder Verstärker! Keiner würde es jetzt wagen zu husten oder eine Cola zu öffnen. Das kleinste Geräusch wird registriert, dank der Römer, die wirklich etwas von Akustik verstanden. Anna Netrebko, als Turandot angekündigt, wurde durch die fabelhafte Ekaterina Semenchuk ersetzt, was in einigen Pressemeldungen unterging. Der Chor mit atemberaubenden dynamischen Wirkungen ist eine einzigartige Sensation. Alles lupenrein, präzise, meisterhaft vom Dirigenten Michele Spotti zusammengehalten, trotz der Entfernungen. Zwischen ihm und den Sängern liegen mitunter 30 Meter. 

Zwischen 15. 000 und 20. 000  Opernzuschauer finden hier Platz: Arena di Verona
Zwischen 15. 000 und 20. 000  Opernzuschauer finden hier Platz: Arena di Verona

Rekordverdächtige 1,22 Millionen Euro spielt die Oper „Turandot“ an einem Abend ein

Wie ein vom Wind angefachtes Buschfeuer frisst sich nun der Applaus vom Parkett aus durch die Reihen bis in die oberste Kante des Amphitheaters. Ob Signore Soave, Veronas Chef-Claqueur, mitgeklatscht hat? Startenor Mario del Monaco habe ihn damals gebeten, „für ihn den Applaus zu machen“, erzählte er 2013 im Interview. Der ausgebildete Krankenpfleger verstehe sich als Helfer: „Die Menschen sind unsicher. Niemand will sich mit einem Klatschen zum falschen Zeitpunkt blamieren.“ Und: „Gegen 14 999 Besucher, denen eine Inszenierung nicht passt, kann ich beim besten Willen nicht anklatschen.“ Der Blick auf die Einnahmen ist keine Illusion. Rekordverdächtige 1,22 Millionen Euro spielte „Turandot“ an diesem Abend ein. Man freut sich auf 2026, wo Puccinis Oper die Festspiele einleiten wird. Verboten, vor Reiseantritt ins Internet zu gucken. Dort wird Regen immer vorhergesagt. Doch nur selten fällt in Verona eine Aufführung ganz ins Wasser.

concerti-Tipp:

Opernfestspiele Arena di Verona
12.6.-12.9.2026
Verona (IT)

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