Gelegentlich ist eben der Wurm drin. Entweder sieht das Publikum eine zwanzig Jahre alte, fraglos hervorragend einstudierte Repertoire-„Carmen“, deren rosa, gelber und blauer Satin-Schimmer in seiner expressiven Bildkraft kaum noch von einem Gemälde El Grecos zu unterscheiden ist, oder es bekommt den sanften Schleier seicht einlullender Musical-Unterhaltung über Augen und Ohren gelegt. Kommt dann noch die erdrückende, betonschwere Würde Neuer Musik hinzu, bleibt nur wenig Raum für geistreiches und innovatives Denken.
Keine Frage: Der Kanon ist heilig und ein Garant für volle Häuser. Aber er langweilt auch – vor allem dann, wenn Besetzung und Regie über ein gut gemeintes Mittelmaß nicht hinauskommen. Gerade für kleinere Bühnen ist das eine ständige Gefahr. Doch gerade von diesen kommen zunehmend erfrischende Ansätze, um sich von der Monotonie zu befreien. Eine Möglichkeit ist es, nicht die Klassiker endlos herauf- und herunterzuspielen, sondern deren Handlung weiterzudenken oder zum Ausgangspunkt neuer Werke zu machen – ein im Schauspiel längst gängiger, im Musiktheater aber noch immer wenig begangener Weg. So zeigt das Münchner Gärtnerplatztheater im Oktober mit Johanna Doderers „Der tollste Tag“ ein alternatives Szenario zu Mozarts „Le nozze di Figaro“. Anders als bei Beaumarchais, muss bei Librettist Peter Turrini der lüsterne Graf Almaviva für seine Intrigen, die Liebe zwischen Figaro und Susanna zu sabotieren, mit dem Tod bezahlen.
Kein musiktheatrales Ersatzteillager
Auch das Fortschreiben bekannter Geschichten ist ein probates Mittel. John Corigliano entwarf bereits 1991 mit „The Ghost of Versailles“ einen dritten Teil der Beaumarchais-Trilogie – eine zwischen verspieltem Rokoko und elegantem Belcanto changierende Hommage an das Erbe Mozarts und Rossinis. In Regensburg hatte das Werk gerade im September Premiere. Wichtig ist dabei stets, dass Werke ihre Würde behalten, integer bleiben und nicht zu einem musiktheatralen Ersatzteillager verkommen – auch wenn der Zeitgeist und veränderte gesellschaftliche Konventionen so manchen Klassiker schlecht haben altern lassen. Wagners Frauenbild im „Fliegenden Holländer“ etwa mutet heutigen Hörerinnen reichlich zu, die Lektüre des Librettos ist freilich kein Hochgenuss. In ihrer Ballade beschwört Senta die Vorstellung, der Holländer könne allein durch die Treue einer Frau bis in den Tod erlöst werden; Daland wiederum zögert nicht, die Tochter als willfährigen Besitz feilzubieten. Hier muss wohl jeder seine Ansprüche herunterschrauben, nicht dass am Ende gilt: Die Musik ist gut, aber der Rest kann weg.
Unantastbare Götzenbilder?
Sanfter, aber nicht weniger inspirierend ist es, grundlegende Themen und Motive als kreative Quelle zu nutzen. Detlev Glanerts „Die drei Rätsel“, das die Deutsche Oper Berlin in der Jugendsparte zeigt, widmet sich mit skurrilem Witz und grotesker Übertreibung einem Taugenichts, der – um dem Tod zu entkommen – in die Welt hinauszieht und in der Rätsel stellenden Prinzessin Scharada seine große Liebe findet. Carlo Pasquinis Libretto folgt dabei Carlo Gozzis Vorlage zu „Turandot“. Puccinis unvollendete Märchenoper ist ohnehin ein Paradebeispiel dafür, dass Werke keine unantastbare Götzenbilder sind. Schon Franco Alfano lieferte kurz nach Puccinis Tod ein Finale, später folgte Luciano Berio mit einer vielfach aufgeführten Fassung.
Einen ungewöhnlichen Schritt wagt die Oper Frankfurt. In ihrer „Turandot“, die im April Premiere feiert, wird die gefragte italienische Komponistin Lucia Ronchetti einen Prolog beisteuern, der die Tragik des Stücks als Vorahnung subtil mitschwingen lässt. Die Kunst, sie lebt.
So, 12. April 2026 18:00 Uhr
Premiere
Musiktheater
Puccini: Turandot
Elza van den Heever (Turandot), Alfred Kim (Calaf), Guanqun Yu (Liù), Liviu Holender (Ping), Magnus Dietrich (Pang), Michael Porter (Pong), Inho Jeong /Thomas Faulkner (Timur), Thomas Guggeis (Leitung), Andrea Breth (Regie)
Termintipp
Sa, 27. September 2025 19:30 Uhr
Premiere
Musiktheater
Corigliano: The Ghosts of Versailles
Svetlana Krutschinin (Dame mit Hut), Jonas Atwood (Louis XVI.), Daniel Szeili (Marquis), Seymur Karimov (Beaumarchais), Iida Antola (Marie Antoinette), Benedikt Eder (Figaro), Stefan Veselka (Leitung), Sebastian Ritschel (Regie)
Fr, 10. Oktober 2025 19:30 Uhr
Premiere
Musiktheater
Doderer: Der tollste Tag
Daniel Gutmann (Figaro), Anna-Katharina Tonauer (Susanne), Daniel Schliewa (Graf Almaviva), Réka Kristóf (Gräfin Almaviva), Juan Carlos Falcón (Bazillus), Michael Brandstätter (Leitung), Josef E. Köpplinger (Regie)
Sa, 11. Oktober 2025 18:00 Uhr
Premiere
Kinder & Jugend
Glanert: Die drei Rätsel
Martina Baroni (Popa & Wildschwein), Philipp Jekal (König Zephalus, Scharadas Vater & Fliege), Chance Jonas-O’Toole (Schrei & Galgenvogel), Joel Allison (Herr Subtil & Tartarus), Dominic Limburg (Leitung), Brigitte Dethier (Regie)