Mozarts und DaPontes „Don Giovanni“ schmückt sich aus guten Gründen mit dem Label, die Oper der Opern zu sein. Man muss das eigentlich nicht mehr wirklich begründen. Alles ist hinreichend düster und doch lebendig bis zum Exzess; weit ab vom Alltag (damals wie heute), aber mit Charakteren, die ein ganzes Panoptikum des Menschlichen (damals wie heute) spiegeln. Von Mozart genial komponiert, versteht sich, alles sitzt, und wenn was gestrichen wird, dann fehlt es.
Daran ändert auch das an der Bayerischen Staatsoper München modernistisch fremdelnde Continuo-Duo aus Hammerklavier (Julian Perkins) und Violoncello (Yves Savary) nicht wirklich was. Diese sich manchmal wie Barmusik vertändelnden Beiträge bleiben Geschmacksache. Das gilt auch für die vom Dirigenten Vladimir Jurowski zum Teil selbstgemachten Einfügungen bei Umbauten, Plutos Auftritten oder den Rezitativen. Beim beherzten, charismatischen Dräuen des Ouvertürenauftaktes blieb es jedenfalls nicht durchgängig.

Die Oper aller Opern hält viel aus.
Im Zeitalter ehrgeiziger szenischer Interpretationen, ja radikaler Neubefragungen ist das adelnde E.T.A. Hofmann-Bonmot von der Oper der Opern auch deshalb legitim, weil das Werk allerhand aushält und selbst im Falle einer intellektuellen Entstellung, anders als ihr Titelheld, immer noch überlebt. Irgendwie jedenfalls, so wie jetzt in der festlich zelebrierten Eröffnungsinszenierung der traditionellen Münchner Opernfestspiele, für die Regisseur David Hermann und Vladimir Jurowski am Pult des Bayerischen Staatsorchesters verantwortlich sind.
An der Komischen Oper in Berlin hatte Kirill Serebrennikov im dritten Teil seiner DaPonte-Trilogie gerade die Frage beantwortet, was mit Don Giovanni eigentlich nach seiner Höllenfahrt passiert, und die Oper kurzerhand mit Mozarts „Requiem“ als Epilog komplettiert. Er hatte sich auch auf die Suche nach heute gerne mit Eifer aufgespürten geschlechterfluiden Verhaltensmustern begeben, sogar aus Donna Elvira kurzerhand einen Don Elviro gemacht, für den sich in Leporellos Verzeichnis ein Plätzchen finden würde. Das hat bühnenpraktisch besser funktioniert, als es klingen mag, wenn man es nur liest.
David Hermann inszeniert die Oper von ihrem Ende her.
In gewisser Hinsicht wirkt die Münchner Inszenierung wie von einem ähnlichen Entdeckerehrgeiz getrieben. Hier züngeln nicht nur die Flammen der Hölle schon in der Ouvertüre in den Videoprojektionen auf der eher technisch modernistischen Baukastenbühne von Jo Schramm. „Es bleibe also jener Schurke bei Proserpina und Pluto“ singen die auf Erden zurückgebliebenen Frauen Donna Anna, Donna Elvira, Zerlina und die Männer Don Ottavio, Masetto und Leporello, jeder mit ganz unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlicher Glaubwürdigkeit. Hermann inszeniert quasi von diesem Ende her und ergänzt den Besetzungszettel durch den Gott der Unterwelt Pluto (Andreas Scarfi) und seine Gattin Proserpina (Erica D’Amico). Bleich und blond in teuflischem Rot, diabolisch choreografiert.

Proserpina und Pluto als Zusatzfiguren
Die beiden übernehmen eine Art Rahmenhandlungsfunktion – so ähnlich wie Oberon und Titania in Shakespeares „Sommernachtstraum“. Sie verschonen uns zum Glück mit zusätzlich eingefügtem Gesang und artikulieren sich nur in flammenrot eingefärbten Übertiteln und durch szenisches Mitmischen. Immerhin ist es ein gekonnter szenischer Trick, wenn Proserpina in den Körper Don Giovannis schlüpft. Gerade noch steht sie hinter ihm, da hat er schon rote Klamotten an wie die Dame aus der Unterwelt, der einmal im Jahr ein Freigang auf Erden gestattet ist.
Man kann sie schon verstehen, dass sie sich Don Giovanni aussucht, um in seinem Körper sozusagen mal die Sau rauszulassen. Und es hat noch für Momente szenischen Witz, wenn Proserpina mit dem männlichen Körper von Don Giovanni Konstantin Krimmel zu fremdeln scheint, weil sie mehr daran bemerkt, als bislang zu ihrem Körpergefühl gehörte. Für einen Augenblick ist auch mal nachvollziehbar, wieso dieser Don Giovanni Donna Elvira nicht gleich erkennt, als die mit Verve auftaucht.

Ein Regie-Missverständnis
Der Rest ist eher ein permanentes Don-Giovanni-Missverständnis. Was bleibt vom Libertin und seinem „Viva la Libertà“, von dessen Faszination für alle, die ihn – halb zog er sie, halb sank sie hin – umkreisen, wenn er fremdgesteuert und der Teufelin kesse Beute ist? Nicht viel mehr als eine Hülle, die für nichts verantwortlich und deren Faszination verblasst ist. Das bleibt der Haupteinwand, allerdings einer mit k.o.-Qualität. (Wenigstens gibt es diesmal keine genetischen Unfälle mit Alien-Parasiten wie in David Hermanns Stuttgarter Deutung von „Die Frau ohne Schatten“.)
Nähme man das Gedankenexperiment ernst, müssten sich die Körper-In- und Out-Phasen, zwischen denen Proserpina wechselt, selbst erklären oder irgendeinen signifikanten Verhaltensunterschied Don Giovannis ausmachen. Oder eben auch nicht, aber dann wäre die banale Erkenntnis, dass Frauen auch nicht anders ticken als Männer.
Einen gewissen Ehrgeiz verfolgt die Regie bei Don Giovannis (oder Proserpinas?) Bemühungen um Zerlina. Da scheint er (oder sie) zu bedauern, dass er Masetto zusammengeschlagen hat, weil Zerlina das missfällt, auch singt sie ihn und nicht Masetto tröstend an. Nachdem sich Proserpina in ihrer eigenen Gestalt ausführlich mit Zerlina beschäftigt hat, ist es am Ende Masetto, dessen Körper sie jetzt für sich nutzt.
Allzu großer szenischer Deutungsehrgeiz
Die Inszenierung verheddert sich aber nicht nur in ihrem Deutungsehrgeiz, sondern zeigt eine gewisse Geringschätzung der Vorlage auch im Aktionismus von Zusatzpersonal. So auf einem fingierten ausklappbaren Standesamt (natürlich darf das Schwulenpaar in Rentnerbeige da nicht fehlen). Warum Leporello erst sein berühmtes Büchlein zückt, über das der verwandelte Don Giovanni offenbar staunt, er die Registerarie dann aber mit den Wartenummern in diesem „Amt“ illustriert, bleibt ein nicht mal lustiger Willkürakt. Wie überhaupt trotz der mit opulenten Kostümen (Sibylle Wallum) ausstaffierten Festgesellschaft vom dramma giocoso nicht viel übrig bleibt. Regelrecht „falsch“ fühlt es sich an, wenn Zerlina aus ihrer neckisch verführerischen, intimen Aufforderung an ihren eifersüchtigen Masetto, sie zu schlagen, eine öffentliche Demütigung vor Publikum machen muss.

Eine Besetzung, wie sie München gemäß ist.
Vladimir Jurowski hat am Pult zwar jedes Detail im Griff, wenn er nicht gerade durch die Beiträge von Hammerklavier und Violoncello, oder kurze szenische Generalpausen ausgebremst wird, kann aber die Schwäche der Szene nicht kompensieren. Immerhin erlaubt er den Protagonisten, sich vokal zu profilieren. Das gelingt vor allem der Frauenriege. Vera-Lotte Boecker überzeugt als Donna Anna als selbstbewusste Verführerin Don Giovannis (nicht andersrum) und reift am Umgang mit dem Verlust des Liebhabers und dem Tod des Vaters.
Christof Fischesser ist ein machtvoller Komtur. Erst führt Pluto die Hand Don Giovannis bei dem Mord an ihm, dann liegt er als Leiche unter einem Tuch wie in der Pathologie und schließlich gibt er das gealterte Alte Ego Plutos, der Don Giovanni zu sich in die Hölle holt und damit auch den irdischen Ausgang seiner Frau zu beenden versucht. Von herausragender Vehemenz ist die taffe, Hosenanzug tragende Donna Elvira von Samantha Hankey; eine beglückende Überraschung die großformatige Avery Ameraeau, die als Zerlina auch ihre szenische Aufwertung (und die hässlichen Stiefel im zweiten Teil) spielend meistert. Markant viril macht Kyle Ketelsen als Leporello beste Figur.

Lob für die Sänger, Kritik für die Regie
Wenn Bariton Konstantin Krimmel als Don Giovanni die Gelegenheit hat, dann vermag er auch mit Verve zu überzeugen, bei der lyrischen Canzonetta („Deh, vieni alla finestra“) glänzt er mit seiner Liedkompetenz. Ansonsten bewältigt er die Vorgaben eines leicht feminisierenden Verhaltens, ohne dass es wirklich diese Interpretation der Rolle trägt. Michael Mofidian ist ein gradlinig eifersüchtiger Masetto. Bei Giovanni Sala wird der immerhin misstrauische Don Ottavio bei seinem Versprechen, für Ordnung zu sorgen, so als eitler Selbstdarsteller demontiert, dass sich alle abwenden. Man hört ihnen allesamt jedenfalls gerne zu. Wer will und kann, mag dem diesmal in Gedanken seine eigenen Don Giovanni-Erinnerungsbilder hinzufügen.
Das Premierenpublikum bejubelte bei dieser „Don Giovanni“-Produktion die Protagonisten auf der Bühne und im Graben. Beim Regieteam fielen die Gegenstimmen milde aus.
Bayerische Staatsoper München
Mozart: Don Giovanni
Vladimir Jurowski (Leitung), David Hermann (Regie), Jo Schramm (Bühne), Sibylle Wallum (Kostüme), Felixe Ross (Licht), Jean-Philippe Guilois (Choreographie), Olaf Rorh (Dramaturgie), Christoph Heil (Chor), Konstantin Krimmel, Christof Fischesser, Vera-Lotte Boecker, Giovanni Sala, Samantha Hankey, Julia Kleiter, Kyle Ketelsen, Avery Amereau, Michael Mofidian, Andrea Scarfi, Bayerisches Staatsorchester, Bayerischer Staatsopernchor
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