Startseite » Interviews » „Operngesang ist nicht nur Glamour“

Interview Vera-Lotte Boecker

„Operngesang ist nicht nur Glamour“

Sopranistin Vera-Lotte Boecker über den Leistungsberuf Sängerin, Reize der Neuen Musik und extreme Opernrollen.

vonAndré Sperber,

Einen Plan verfolgte Vera-Lotte Boecker nie. Nach der Schule studierte sie zunächst Philosophie und Literatur. Der Operngesang trat erst recht spät in ihr Leben, bevor er schließlich zum Mittelpunkt ihrer Karriere wurde. Heute ist die Sopranistin international gefragt und zurzeit als Schumanns „Peri“ an der Hamburger Staatsoper zu erleben.

Frau Boecker, in Ihrem Repertoire finden sich sehr unterschiedliche Rollen. Zum einen singen Sie die ganz „klassischen“ Figuren wie die Donna Anna, Adele oder Pamina …

Vera-Lotte Boecker: … die ich teilweise jetzt nicht mehr singen würde.

Warum nicht?

Boecker: Donna Anna ist neu, da bin ich noch auf Entdeckungsreise. Aber Pamina beispielsweise habe ich einfach wirklich oft gesungen und habe in der wunderbaren Berliner „Zauber­flöten“-Inszenierung von Barrie Kosky die Welt bereist. Die Adele gab es in Mannheim und Wien. Irgendwann waren diese Partien für mich erschöpft, ich merkte, dass ich ihnen nichts Neues mehr hinzuzufügen habe. Andere Sängerinnen und Sänger perfektionieren eine bestimme Rolle über Jahre hinweg und finden ständig neue Nuancen – davor habe ich großen Respekt. Ich selbst bin nicht dafür gemacht. Vielmehr liebe ich es, neue Charaktere zu entdecken. Das war schon im Studium so. Jede Woche habe ich neue Stücke erarbeitet, bin durch die Arien „durchgehechelt“ und habe immer neue Herausforderungen gesucht.

Das heißt, Neues, Modernes liegt Ihnen mehr?

Boecker: Nein, ich singe sehr gern die „klassischen“ Partien und finde es auch sehr wichtig, diese Werke am Leben zu halten für die nächsten Publikumsgenerationen. Aber es gibt für diese Partien sozusagen schon Blaupausen, die durch die Sängerinnen der Vergangenheit entstanden sind. Zum Beispiel studiere ich gerade „Das schlaue Füchslein“ ein – meine erste Oper auf Tschechisch. Da gibt es diese wunderbare Aufnahme mit Lucia Popp, die zu meinen absoluten Lieblingssängerinnen gehört. Und wenn man dann hört, was Künstlerinnen wie sie, oder auch Mirella Freni oder die Callas, schon geleistet haben, hat man manchmal das Gefühl: Das ist eigentlich kaum zu übertreffen. Deshalb fasziniert mich Neue Musik so, weil es keine Vorbilder gibt, keine „perfekte“ Aufnahme, an der man sich messen müsste. 

Orientieren Sie sich denn immer an Aufnahmen ?

Boecker: Nicht immer. Erst, wenn ich den Klavierauszug ausreichend studiert habe, mich mit der Gesangstechnik, den schwierigen Stellen beschäftigt habe – wenn ich sozusagen den „Rohbau“ im Hals habe –, fange ich an, inhaltlich tiefer in die Psychologie der Figur einzusteigen. Dann höre ich manchmal auch Aufnahmen und schaue, wie andere Sängerinnen damit umgegangen sind. Aber dieser Schritt kommt bewusst erst spät. Wenn ich zu früh mit Interpretationen beginne oder mich an großen Vorbildern orientiere, dann wird das Ganze schnell überfrachtet. Das Schönste ist eigentlich, erstmal allein die Noten zu studieren und die Zusammenhänge zu verstehen. Gerade bei Komponisten wie Berg oder Strauss ist das unglaublich spannend, weil hinter jeder Linie eine enorme Struktur steckt. Und genau daraus entwickelt sich dann nach und nach eine eigene Interpretation.

Finden Sie zu allen Charakteren Zugang?

Boecker: Es gibt schon Figuren, bei denen ich denke, dass ich da künstlerisch weniger zu sagen habe als bei anderen. Aber das ist die Ausnahme und ich bemühe mich, solche Partien schon im Vorfeld abzusagen. Bis jetzt hatte ich aber immer Glück.

Wie war es denn mit Schumanns „Das Paradies und die Peri“ in Hamburg?

Boecker: Ich muss sagen, ich war lange nicht mehr so begeistert von einem Regiekonzept. Und auch das Werk selbst, es ist ja eigentlich ein Oratorium, ist unfassbar spannend. Tobias Kratzer hat es bei den Proben mal so beschrieben wie eine Zip-Datei, die man erst mal entpacken muss und die dann ganz viele Unterpfade hat. Und das stimmt: Jede Szene ist so dicht, da steckt ungeheurer viel drin. Beim Einstudieren habe ich das zunächst gar nicht so wahrgenommen, erst die szenische Arbeit hat mir die Augen geöffnet. 

Wie erleben Sie generell verschiedene Regiekonzepte?

Boecker: Sehr schön ist es, wenn die Arbeit partnerschaftlich wird und man als Sängerin eigene Impulse einbringen kann. Genauso erfüllend kann es aber sein, sich in ein starkes Regiekonzept ganz vertrauensvoll hineinfallen zu lassen. Entscheidend ist für mich, dass ein Regisseur wirklich vorbereitet ist und eine klare Haltung zum Stück hat. In letzter Zeit hatte ich da großes Glück, etwa mit Tobias oder auch mit Claus Guth in München. Sicher macht man im Laufe seiner Karriere auch andere Erfahrungen. Herausfordernd können Projekte sein, in denen Regisseure nicht wirklich aus dem Opern- und Musikbereich kommen – das kann sehr spannend, aber manchmal auch problematisch sein.

Beschäftigt sich auch intensiv mt Yoga, Medidation, Philosophie, Vedanta und Buddhismus: Vera-Lotte Boecker
Beschäftigt sich auch intensiv mt Yoga, Medidation, Philosophie, Vedanta und Buddhismus: Vera-Lotte Boecker

Können Sie eine Rolle nach der Vorstellung einfach ablegen oder nehmen Sie sie manchmal mit nach Hause?

Boecker: Nach „Bluthaus“ von Georg Friedrich Haas beispielsweise hat mich die Rolle noch monatelang nicht losgelassen. Die Figur – eine Frau, die über Jahrzehnte von ihrem Vater missbraucht und vergewaltigt wurde – war extrem heftig und hat mir auch körperlich nachgehangen. Seitdem habe ich für mich Rituale entwickelt, um nach einer Vorstellung bewusst wieder loslassen zu können. Das klingt vielleicht banal, aber ich gehe wirklich immer duschen – nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch, um symbolisch das Stück, die Rolle, abzuwaschen und eine klare Trennung herzustellen. Gerade wenn man auf der Bühne stirbt oder tief ins Dunkle eintaucht, ist es wichtig, danach wieder im eigenen Leben anzukommen. Bei einer Adina im „Liebestrank“ etwa ist das vielleicht nicht nötig. Aber bei der Peri habe ich gleich gemerkt: Das wird wieder so eine Rolle, die ans Eingemachte geht.

Klingt, als könne der Sängerberuf auch psychisch mitunter sehr belastend sein.

Boecker: Absolut. Operngesang ist ja nicht nur Glamour, schöne Kleider und herrliche Musik, sondern auch ein Leistungsberuf. Wie gesagt, das Psychische bei extremen Rollen ist nicht zu unterschätzen, trotzdem müssen die Töne immer sitzen, man muss abliefern – das bringt auch Ängste oder Unsicherheiten mit sich. In unserer Branche wird immer noch erstaunlich wenig darüber gesprochen, wie man mit dem Druck umgeht, aber ich habe das Gefühl, dass sich gerade etwas verändert und wir da offener werden.

Wo finden Sie Ausgleich?

Boecker: Yoga und Meditation. Sportlich war ich nie sehr ambitioniert, dafür mehr spirituell interessiert – Philosophie, Vedanta, Buddhismus, damit beschäftige ich mich intensiv. Ich habe während Corona eine Ausbildung zur Yogalehrerin und Meditationskursleiterin gemacht. Seit Kurzem ist natürlich vor allem mein kleiner Sohn Ausgleich und Mittelpunkt in meinem Leben.

Sie waren Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper. War für Sie damit bereits ein Ziel erreicht?

Boecker: In Wien zu singen, ist phänomenal. Die unglaubliche Historie, die große Tradition und die Tatsache, dass es eine echte Musikstadt ist. Man spürt dort, wie die Menschen für die Kunst brennen. Aber ich habe eigentlich nie mit festen Karrierezielen gearbeitet. Als ich angefangen habe, war mein Gedanke gar nicht, wie weit ich ich damit komme, sondern eher, ob ich davon irgendwie leben kann, egal ob im Chor oder solistisch. Heute genieße ich die Freiheit, meine Projekte häufig auswählen zu können. Das ist ein großes Privileg. Grundsätzlich denke ich aber: Publikum ist Publikum. Ob in Wien oder in Mannheim – ich gebe als Sängerin immer mein Bestes, egal an welchem Haus und wer im Saal sitzt.

Aktuelles Album:

Album Cover für Henze: Das verratene Meer

Henze: Das verratene Meer

Vera-Lotte Boecker, Bo Skovhus, Josh Lovell, Erik Van Heyningen, Orchester der Wiener Staatsoper, Simone Young.
Capriccio

Termine

Auch interessant

Rezensionen

Klassik in Ihrer Stadt

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!