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Interview Rafael Payare

„Wir müssen mit unserer Kunst alle erreichen“

Rafael Payare, Chefdirigent des Orchestre symphonique de Montréal, über grenzüberschreitende Konzerte, nicht enden wollende Flitterwochen und lebensverändernde Glücksfälle.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Seit gut zwei Jahren ist Rafael Payare Chefdirigent des Orchestre symphonique de Montréal, das in diesem Jahr sein neunzigjähriges Jubiläum feiert. Über diese Konstellation kann der aus Venezuela stammende Dirigent nur in den höchsten Tönen schwärmen, ist diese Beziehung doch mehr als erfolgreich und fruchtbar. Fünf Alben sollen in fünf Jahren entstehen. Auf ihrer Europa-Tournee wird das Orchester nun vom Pianisten Daniil Trifonov begleitet. Zwei große Orchesterglocken sind ebenfalls im Gepäck, auf deren Einsatz in Berlioz’ „Symphonie fantastique“ sich Payare besonders freut.

Sie sind musikalisch mit dem venezolanischen Musikprojekt Sistema großgeworden. Können Sie ein bisschen aus dieser Zeit erzählen?

Rafael Payare: Ich wurde im venezolanischen Puerto la Cruz geboren und kam relativ spät, erst mit vierzehn Jahren, in das Sistema-Programm des Maestro Abreu. Ich bin das jüngste von fünf Kindern, meine Mutter war Grundschullehrerin und mein Vater Kartograf, mein Bruder spielte ein Musikstück auf dem Fagott, das mich neugierig machte. Irgendwann hörte ich Tschaikowskys Ouvertüre „1812“. Und als ich die Hörner das Marseillaise-Thema spielen hörte, war es um mich geschehen. Und ich wollte dieses Instrument beherrschen. Bald gehörte ich schon zur Orquesta Sinfónica Nacional Infantil de Venezuela. Als Hornist.

Was hat Ihnen das Sistema vermittelt?

Payare: Eine grundlegende Einstellung zur Musik. Das bedeutet: viel Arbeit, viel Zuwendung, viel Respekt. Und: Nichts kommt von selbst. Das habe ich von Maestro Abreu gelernt, der mich später im Dirigieren unterwies. Auch das Denken: Selbst wenn man schon viel erlernt hat, das Ziel ist lange noch nicht erreicht, die Arbeit hört nie auf. Eines der wichtigsten Dinge, die Abreu mir sagte, war: Die Musik muss ein Recht sein und kein Privileg. Auch wenn man aus kleineren Verhältnissen kommt, muss man das Recht haben, einen guten Musikunterricht zu erhalten. Gleichzeitig gibt es die Pflicht, das Beste, was einem möglich ist, abzuliefern.

In letzter Zeit hat das Image des Sistema sehr gelitten. Einst wurde es als ein sozialromantisches Märchen gepriesen, das benachteiligten Kindern ungeheure Chancen bot. Nun berichten ehemalige Schülerinnen und Schüler von sexuellem Missbrauch und auch politischer Indoktrination. Was sagen Sie dazu?

Payare: Wenn ich solche Dinge gefragt werde, dann kann ich nur mit dem antworten, was ich selbst gesehen und erlebt habe. Ich kann einfach auch nicht sagen, ob es den Missbrauch gab oder nicht. Ich kann also diese Anschuldigungen weder bestätigen noch verneinen. Mir wurde einmal vorgeworfen, dass ich vom Sistema profitiert habe, obwohl ich nicht benachteiligt war beziehungsweise aus der unteren Mittelschicht stamme und nicht in bitterer Armut aufgewachsen bin und wir immer etwas zu essen hatten. Mein Zimmerkamerad stammte tatsächlich aus sehr armen Verhältnissen. Sein Vater lebte in einer Hütte, in einer Favela. Der Fußboden bestand aus Erde. Seine Mutter hatte ein kleines Haus am Berghang in einem Armenviertel. Ich habe ihn sogar besucht. Und ich habe viel gelernt. El Sistema hat uns alle verbunden. Und uns auf eine Ebene gebracht, von der der Himmel nicht mehr weit war.

Liebe auf den ersten Ton: Rafael Payare und das Orchestre symphonique de Montréal
Liebe auf den ersten Ton: Rafael Payare und das Orchestre symphonique de Montréal

Die Pianistin Gabriela Montero hat Gustavo Dudamel, der ebenfalls aus dem Sistema hervorging, scharf kritisiert. Vor wenigen Wochen protestierten Mitglieder der Human Rights Foundation aus New York vor einem Auftritt Dudamels vor der Carnegie Hall. Man wirft ihm vor, dass er sich nicht genug von den venezolanischen Diktatoren distanziert. Was sagen Sie dazu?

Payare: Das ist einfach ein sehr schwieriges Thema. Viele denken, dass das Sistema die Regierung ist. Nun gab es die Institution bereits seit Jahrzehnten, als Chavez an die Macht kam. Insofern ist das wirklich nicht einfach abzugrenzen. Das Sistema versammelt mehr als eine halbe Millionen Kinder und hat vielen auch geholfen. Als sich Gustavo bei einer Gelegenheit einmal öffentlich äußerte, wurde ein ganzes Orchester, das sich abflugbereit bereits am Flughafen in Caracas befand, um auf eine Welt-Tournee zu gehen, zurückgerufen. 130 Kinder, die sich vorbereitet hatten und sich auf die dreimonatige Tour freuten. Will man das? Natürlich nicht. Es ist so einfach, von außen zu kritisieren. Und auch deshalb halte ich mich zurück. Mein Leben findet nämlich im Ausland statt. Ich bin seit neun Jahren nicht mehr in Venezuela gewesen, aber nicht, weil ich eine persona non grata wäre, sondern weil ich einige Reisen aufgrund von gesundheitlichen Problemen absagen musste.

Wie schafft man es vom hintersten Pult als Hornist vor das Pult als Dirigent?

Payare: Bei Proben bat man mich manchmal, das Dirigat zu übernehmen. Es fühlte sich auf Anhieb sehr organisch an. Ich fühlte mich sofort wohl und nahm bei Maestro Abreu noch weitere Unterrichtsstunden.

2012 gewannen Sie den Ersten Preis beim Malko-Wettbewerb für junge Dirigenten und wurden kurz darauf von Lorin Maazel eingeladen, bei dessen Castleton Festival in Virginia zu dirigieren, wo Sie zum zum Principal Conductor ernannt wurden. Sie kamen in Kontakt mit Claudio Abbado, Daniel Barenboim. Viele Türen öffneten sich.

Payare: Ja, das ging sehr, sehr schnell. Und ich bin dafür sehr, sehr dankbar!

Krzysztof Penderecki lud Sie ein, im Rahmen der Konzerte anlässlich seines achtzigsten Geburtstags 2013 in Warschau zu dirigieren – neben Dirigenten wie Valery Gergiev, Charles Dutoit, Leonard Slatkin und Jiří Bĕlohlávek.

Payare: Ich hatte ja den Malko-Wettbewerb auch mit einem Werk von ihm gewonnen. Er sagte mir, dass es mir gelungen sei, seine musikalischen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen. Ich dirigierte seine Musik auch zum 85. Geburtstag. Seine Musiksprache war für mich so, als würde ich Spanisch sprechen. Ich weiß nicht weshalb, aber es war so. Bei den Proben sagte er immer, ich könne das so gut umsetzen, was er musikalisch meinte. Das hat mich sehr gerührt.

2019 wurden Sie zum Chefdirigenten des San Diego Symphony Orchestra ernannt. San Diego liegt nicht weit vom mexikanischen Tijuana, an der Grenze, wo tagtäglich viele Menschen versuchen, den Grenzzaun zu überwinden, um in die USA zu gelangen. Beeinflusst das Ihre Arbeit?

Payare: Es sind tatsächlich etwa fünfzehn Auto-Minuten bis zu Grenze. Etwas Erstaunliches hat sich ereignet, seitdem ich dort bin. Seit 120 Jahren, also seit Bestehen des Orchesters, war es noch nie im mexikanischen Tijuana aufgetreten. Im letzten Jahr haben wir dann zum ersten Mal in der Geschichte des Orchesters dort gespielt. Es kamen so viele Menschen, dass sie das Konzert auf eine öffentliche Leinwand auf dem Hauptplatz der Stadt übertragen mussten. Das ist eine der für mich wichtigen Dinge, die ich beim Sistema gelernt habe. Wir müssen mit unserer Kunst alle erreichen, den Zugang zur Musik allen ermöglichen.

Rafael Payare freut sich über die Glocken, die eigens für das Orchestre symphonique de Montréal angefertigt wurden
Rafael Payare freut sich über die Glocken, die eigens für das Orchestre symphonique de Montréal angefertigt wurden

2022 wurden Sie zum Chefdirigenten des Orchestre symphonique de Montréal ernannt, als Nachfolger des sehr renommierten Kent Nagano. Was glauben Sie: Mit welchen Erwartungen war diese Entscheidung verbunden?

Payare: Das Orchestre symphonique de Montréal ist ein Orchester mit einer sehr großen Tradition. Neben Kent Nagano hat auch Charles Dutoit die Musiker und Musikerinnen sehr geprägt. Zudem entstanden sehr viele Aufnahmen. Ich weiß nicht genau, was passierte, aber die Beziehung zum Orchester war 2018, als ich es zum ersten Mal dirigierte, sofort da. Zunächst dachte ich, das ist ja wie bei den Flitterwochen: Alle sind zunächst verliebt, und dann wird das eines Tages vergehen. Dem ist aber nicht so. Es ist wie in meiner Ehe. Ich bin seit fünfzehn Jahren verheiratet (mit Cellistin Alisa Weilerstein, d. Red.), und die Flitterwochen haben immer noch nicht aufgehört. Wir sind immer noch verliebt.

Im November treten Sie in Deutschland mit Daniil Trifonov auf …

Payare: Ich freue mich sehr. Daniil wird mit dem Klavierkonzert von Robert Schumann eine ganz andere Facette seines Könnens zeigen. Außerdem spielen wir Berlioz’ „Symphonie fantastique“. Das wird schon alleine deshalb ein besonderes Ereignis für uns, weil unsere Neuerwerbung zum Einsatz kommt: Im Juni haben wir zwei Glocken aus der niederländischen Glockengießerei Eijsbouts Foundry erworben, die lange auf das Königliche Concertgebouw-Orchester spezialisiert war. Wir hatten uns schon lange gewünscht, eigene Glocken für das Orchester zu haben. Diese klingen nicht nur toll, es ist sogar der Name des Orchesters eingraviert.

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