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Interview Omer Meir Wellber

„Kunst braucht Risiko, Reibung – und Spaß“

Omer Meir Wellber über seine Vision in Hamburg, Wege zu Wagner und die Bedeutung des Theaters im Netflix-Zeitalter.

vonAndré Sperber,

Mit Beginn der neuen Spielzeit feiert Omer Meir Wellber seinen Einstand als neuer Generalmusikdirektor der Hamburger Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Ohnehin für seine Neugier, Vielseitigkeit und unkonventionellen Wege bekannt, hat der gebürtige Israeli auch in der Hansestadt eine Menge Überraschendes im Gepäck.

„No risk, no fun“ heißt das Motto Ihrer ersten Hamburger Spielzeit. Welche Vision steckt dahinter?

Omer Meir Wellber: Ich habe mittlerweile viele Jahre in Deutschland gearbeitet und kenne das deutsche Theatersystem sehr gut – mit all seinen Stärken, aber auch recht festen Strukturen. Genau darin liegt die Herausforderung: Wenn im Betrieb alles gut funktioniert, läuft man schnell Gefahr, es sich in einer Art „First-Class-Routine“ bequem zu machen. Aber Kunst lebt nicht von Routine. Sie braucht Risiko, Reibung – und ja, auch Spaß. Deshalb haben wir einige Projekte geplant, die diese Routinen durchbrechen, um die Spontanität und die Energie des Augenblicks zurückzugewinnen. „No risk, no fun“ bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern im Gegenteil klare künstlerische Identität. Hamburg ist ein Ort, an dem künstlerisch Außergewöhnliches möglich ist – und ich freue mich, diesen Weg mitzugestalten.

Auch die anstehenden Opernpremieren sind recht unkonventionell.

Wellber: Richtig, wir starten die Opernspielzeit bewusst mit zwei Werken, die formal gar keine Opern sind: Schumanns „Das Paradies und die Peri“ ist eigentlich ein Oratorium, und „Die große Stille“ ist ein völlig neues, experimentelles Projekt, das sich nicht kategorisch einordnen lässt. 

Warum diese bewusste Abweichung vom Kanon?

Wellber: Ich finde es immer wichtig zu fragen: Was bedeutet Theater heute? Wir leben heute in einer Welt, in der das Publikum sehr viel komplexer, visueller, informierter ist als früher. Alle sind ständig von Bildern, Informationen, Formaten umgeben – durch Internet, soziale Medien, Streamingdienste. Vor hundert Jahren war das Theater, was heute Netflix ist: eine zentrale Erzählplattform der Gesellschaft. Inzwischen stehen uns all diese Medien tagtäglich zur Verfügung, deshalb muss das Theater heute etwas anderes sein. Es muss sich weiterentwickeln und andere Perspektiven, Erfahrungen bieten, jenseits des Streamings, jenseits der Reproduktion – als etwas Eigenständiges, Analoges, Erlebbares. Das ist die große Herausforderung und die Chance.

Wie überzeugt man ein traditionsbewusstes Publikum von neuen Ideen?

Wellber: Bitte nicht falsch verstehen: „Neu“ heißt für mich nicht „gegen das Publikum“! Es geht um Dialog, nicht um Provokation. Durch Provokationen, zum Beispiel im experimentellen Regietheater, hat man in den vergangenen Jahrzehnten auch viel Publikum verloren. Und es ist auch nachvollziehbar, wenn dann manche sagen: „Das möchte ich so nicht sehen.“ Deshalb glaube ich, dass Kommunikation heute ein zentrales Stichwort ist. Genauso wie Spaß. Es gibt in unserer Branche eine Tendenz, alles unglaublich ernst zu nehmen. Was aber wirklich zählt, ist die Erfahrung, die wir miteinander teilen, die uns zusammenkommen lässt und uns aus dem Alltag herausholt.

Wie steht es denn mit dem „normalen“ Repertoire?

Wellber: Das bleibt für mich absolut zentral! Die Balance ist entscheidend. Ich liebe das Repertoire – nicht nur als Dirigent, sondern als jemand, der an Ensemblearbeit glaubt, an Kontinuität, an die Kraft der großen Werke. Ich werde als Generalmusikdirektor auch sehr viel Repertoire dirigieren …

… darunter auch „Lohengrin“ und „Tristan“. In Ihrem Geburtsland Israel ist Wagner nach wie vor ein schwieriges Thema.

Wellber: Das stimmt. Meinen ersten wirklichen Kontakt mit Wagners Musik hatte ich erst, als ich Assistent bei Daniel Barenboim war – da war ich schon fast dreißig. Ich habe meine „Wagner-Reise“ also relativ spät begonnen, und sie hat sich dann langsam, aber sehr intensiv entwickelt. Meine erste Wagner-Oper als Dirigent war „Tannhäuser“. Das war die erste, bei der ich das Gefühl hatte, den „Schlüssel“ gefunden zu haben. Wagner erschließt sich mir nicht so unmittelbar wie etwa Richard Strauss. Ich brauche einen Zugang – ein Gefühl, dass ich den Raum öffnen kann. Bei „Tannhäuser“ war dieser Zugang sofort da.

Man kommt als Dirigent vermutlich kaum an Wagner vorbei.

Wellber: Was mich an Wagner bis heute fasziniert, ist nicht nur die Musik, sondern auch die Rolle, die er für das Klangverständnis eines Orchesters spielt. Er ist – musikalisch gesehen – eine Art Prüfstein. Und das macht ihn auch für die klangliche Ausbildung eines Orchesters unverzichtbar. Ich erinnere mich, wie Daniel Barenboim einmal gesagt hat, dass das Israel Philharmonic Orchestra, so hervorragend es ist, nie ein wirkliches Spitzenorchester werden könne, weil ihm diese wichtige Wagner-Erfahrung fehlt. Das ist natürlich provokant, aber ich verstehe, was er meint. Es ist, als hätte ein intellektueller Philosoph alles gelesen – nur eben nicht Aristoteles. Da fehlt etwas Fundamentales.

Und die Person, die hinter der großartigen Musik steht, wie geht man mit der um?

Wellber: Natürlich ist Wagner als Person und historische Figur hochproblematisch. Er war Antisemit, Hitlers Lieblingskomponist, in vielen seiner Schriften provinziell, dumm, teilweise unerträglich. Aber genau diese Ambivalenz interessiert mich. Ich finde es wichtig, Wagner nicht als mystische Überfigur oder religiöse Ikone zu behandeln – sondern als das, was er ist: ein Komponist. Vielleicht sogar der größte überhaupt. Wenn ich Wagner dirigiere – auch hier in Hamburg – möchte ich ihn genau so zeigen. Mit all seinen Widersprüchen. Er ist vielleicht das beste Beispiel dafür, wie eng Genialität und Abgrund beieinanderliegen können.

„Es geht um Dialog, nicht um Provokation“, sagt Dirigent Omer Meir Wellber
„Es geht um Dialog, nicht um Provokation“, sagt Dirigent Omer Meir Wellber

Wissen Sie noch, welches das allererste klassische Stück war, das Sie jemals gehört haben?

Wellber: Ein allgemeines Schlüsselerlebnis habe ich nicht. Meine erste Opernpartitur war „Carmen“. Bis heute ist es vielleicht die Oper, zu der ich das persönlichste Verhältnis habe. Meine Mutter hat alte Videos, auf denen ich mit sechs Jahren im Wohnzimmer stehe und die Ouvertüre dirigiere – völlig in meiner eigenen Welt. 

Wie kam es dazu, dass Sie ursprünglich Akkordeon gelernt haben?

Wellber: In meiner Heimatstadt Be’er Sheva gibt es eine sehr lebendige Tradition rund um das Akkordeon und auch um die Mandoline. Wir sagen dort im Spaß: Man kann sich für alles entscheiden – Geige, Flöte, Klavier – aber man muss Mandoline oder Akkordeon spielen. Das ist fast ein kulturelles Gesetz. 

Derzeit hört man immer wieder von Angriffen auf Be’er Sheva. Welchen Einfluss übt die gegenwärtige Situation in Ihrem Heimatland auf Sie aus?

Wellber: Die aktuelle Situation ist natürlich extrem schwierig. Auf der einen Seite die katastrophale Lage in Gaza, auf der anderen Seite die wachsenden Spannungen mit dem Iran. Mein Leben ist zurzeit hier in Deutschland, und ich versuche, das alles nicht zu nah an mich heranzulassen. Aber Israel ist meine Heimat, meine Familie lebt dort, es ist ein wunderschönes Land mit großartigen Menschen und vielen Problemen. Es gibt jetzt kein Zurück mehr. Ich hoffe sehr, dass es bald endlich mutige Stimmen gibt, die Verantwortung übernehmen, die nicht nur Schuldzuweisungen verteilen, sondern konkrete Schritte wagen. Die Menschen dort brauchen Hoffnung, Zukunft, Perspektive.

Zaubern Sie eigentlich noch?

Wellber: Ja, manchmal tatsächlich. Erst neulich habe ich in Rom einen sehr coolen Magic Shop gefunden. Da habe ich ein paar Sachen gekauft, auch für meine Tochter. Ich suche da immer etwas Neues.

Sie beherrschen die Zauberkunst, spielen Akkordeon, Klavier, Geige, Sie dirigieren, komponieren, haben mehrere Romane geschrieben – schlafen Sie zwischendurch auch mal?

Wellber: Mal mehr, mal weniger. Mein Vater hat immer gesagt: Wenn du nicht genug Zeit hast, musst du eine Stunde früher aufstehen. Klingt simpel, aber es steckt viel Wahrheit darin.

Aktuelles Album:

Album Cover für

Beamish: Klavierkonzert Nr. 3, Beethoven: Klavierkonzert Nr. 1

Jonathan Biss (Klavier), Swedish Radio Symphony Orchestra, Omer Meir Wellber (Leitung). Orchid Classics

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