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Interview Fazil Say

„Hinter jeder Musik eine Geschichte”

Der Pianist und Komponist Fazıl Say über die Herausforderungen seines Doppelberufes und musikalische Botschaften in seinen Werken

vonChristian Schmidt,

Man muss sich schon entscheiden, ob man Fazıl Say lieber in Jerusalem, Tokio oder in seiner türkischen Heimat anrufen will. Der 42-Jährige, der nach seinem Studium in Düsseldorf und Berlin fließend deutsch spricht, rast ruhelos durch die Welt, gastiert innerhalb eines Monats in Genf, Berlin und Tel Aviv. Nebenher komponiert er fleißig in praktisch allen Genres. Say gehört zu den größten Klassikstars seines Landes – und wird als solcher auch sehr ernst genommen, denn er steht seiner Heimat nicht immer unkritisch gegenüber. Politisch möchte er sich daher derzeit nicht äußern – aus gutem Grund, denn erst im April dieses Jahres wurde er in Istanbul wegen Blasphemie zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt und geht nun schon zum zweiten Mal in Revision. Der bekennende Atheist hatte sich per Twitter über einen Muezzin lustig gemacht.


Sie sind – wie alle gefragten Künstler – unglaublich viel unterwegs. Wie teilen Sie Ihre Zeit zwischen dem Klavierspiel und dem Komponieren auf?

Da erlege ich mir keine festen Regeln auf. Ich versuche, fast jeden Tag beides zu machen. Immerhin arbeite ich jährlich an sechs bis sieben Auftragswerken, dazu kommen dann die Klavierprogramme, die ich neu einstudieren muss. Und sehen Sie, man kann auch nicht jeden Tag komponieren, dafür braucht man ja kreative Momente, Inspiration. Handwerkliches lässt sich natürlich immer tun, zum Beispiel ein schon niedergeschriebenes Werk zu orchestrieren.

Das ist eine Menge Arbeit.

Die Arbeit ist für mich Teil meines Wesens, sie gehört zu mir. Ich lebe mit und für Musik. Da empfinde ich auch keinerlei Müdigkeit.

Früher war es ja allgemein üblich, dass Komponisten zugleich auch Pianisten waren. Wie beeinflussen sich die beiden Berufe gegenseitig?

Ich glaube, das kann man pauschal nicht beantworten. Schließlich komponiere ich schon, seit ich fünf Jahre alt bin, das ist meine Natur.

Aber komponiert ein Pianist anders, und spielt ein Komponist anders Klavier?

Natürlich helfen sich beide Berufe gegenseitig, letzten Endes fließen sie ja auch in ein und derselben Person zusammen. Es ist auf jeden Fall nützlich, sich zunächst einmal Kenntnisse von der Struktur der Musik zu erarbeiten. Wenn ich zum Beispiel ein neues Programm einstudiere, suche ich schon beim Blattlesen: Was möchte der Komponist sehen, was sind die Farben, die er malt? Welche Harmonik verwendet er wofür, und was könnte er gefühlt haben?

Dann haben Sie es sicher auch leichter zu komponieren.

Als Pianist hat man notwendigerweise ein großes Gespür für die akustische Charakteristik eines Orchesters. Man steht ja ständig im Austausch, wenn man vorn sitzt und in den Proben und beim Konzert zuhört, sich aufeinander einlassen muss. Vieles verändert sich immer wieder. Ich bekomme das auf der Bühne mit, diese Erfahrung muss ein Komponist unbedingt haben. Man sollte die Psychologie eines Musikers verstehen.

In welcher kompositorischen Tradition sehen Sie sich selbst?

Sich einer bestimmten Richtung unterordnen zu wollen, hieße, die eigene Kreativität einzuschränken. Bei mir entscheidet sich die Stilistik nach dem, was ich erzählen will, alles andere ist Technik. Also finden Sie in meinen Werken türkische Skalen, Atonalität, Impressionismus, Bitonalität und meinetwegen auch avantgardistische Tendenzen. Das alles darf aber kein Selbstzweck sein – es kommt immer auf die Inhalte an.

Das heißt, Sie verarbeiten klare Botschaften, oder komponieren Sie „absolute Musik“?

Der Konflikt zwischen Programm- und absoluter Musik hat sich überlebt. Das geht zusammen. Fast jedes meiner Stücke hat eine Geschichte – sowohl eine abstrakte Botschaft als auch eine konkrete Erzählung. Eines meiner neuesten Orchesterwerke heißt Universum – da richtet sich die Tonalität der sechs Sinfoniesätze nach den Inhalten, die Musik apostrophiert zum Beispiel mathematische Theoreme des Urknalls. Es schien mir nötig, den Orchesterapparat um 35 neue Instrumente zu erweitern, um die Entwicklung des Weltalls musikalisch erzählen zu können. Aber aus dieser Gesamtheit ergeben sich natürlich auch metaphysische Botschaften, wenn Sie so wollen.

Wovon erzählen Sie?

Manchmal von Personen, manchmal von Städten, das Themenspektrum ist sehr groß. Istanbul zum Beispiel ist eine große, eher romantische Geschichte. Manchmal habe ich auch eine politische Botschaft.

Wir respektieren, dass Sie darüber zurzeit nicht sprechen möchten.

Ja, dafür bitte ich um Verständnis. Mein Gerichtsprozess ist noch nicht abgeschlossen.

Sie verwenden auch türkische Instrumente und Melodien. Wie wichtig sind Ihnen diese musikalischen Wurzeln?

Es wäre doch seltsam, wenn sie in meine eigene Musik nicht einfließen würden, schließlich bin ich ein türkischer Komponist. Wenn ich allerdings türkische Volkslieder verwende, wie beispielsweise im dritten Satz meines Violinkonzerts, dann gebe ich das explizit an. Das finde ich fair, und außerdem kennt diese Melodien in der Türkei sowieso jeder.

Kommen in Ihre Konzerte hierzulande viele Ihrer Landsleute?

Entscheidend ist, dass dafür in der Community geworben wird. Dann kommen sie auch. Sonst ist der Anteil eher übersichtlich. Wichtig ist, dass es nicht bei Einzelaktionen bleibt, sondern dass man immer wieder Konzerte anbietet, in denen deutsche und türkische Musiker zusammen auftreten. So etwas muss sich langsam entwickeln, da kann man keine Wunder erwarten.

Wenn man so viel komponiert wie Sie, hat man dann nicht auch Lust, spontan ein Recital-Programm zu verändern?

Eines der größten Probleme des Klassiklebens ist doch, dass zwei bis drei Jahre im Voraus geplant wird. Das bedeutet, man spielt ein Programm vielleicht 50 oder sogar 60 mal, es ist schon überkommen. Manchmal habe ich dann schon irgendwann keine Lust mehr darauf, weil ich auch, wenn ich Klavier spiele, immer wieder andere Geschichten erzählen will.

Kann man da nichts machen?

Die Musikwelt sollte sich mehr Flexibilität erlauben. Mag sein, dass das Publikum teilweise kommt, um ein ganz bestimmtes Stück zu hören. Dann ärgern sich die Leute zu Recht, wenn das Programm geändert wird. Aber wenn man selber in einer dramatischen Stimmung ist und dann eine adrette Mozartsonate spielen soll – das finde ich schon schwierig, dem Stück dann wirklich gerecht zu werden.

Sie sind auch als Jazzer und Improvisationstalent bekannt. Den Notentext einer Mozartsonate ändern Sie aber nicht?

Natürlich nicht, das ist geschriebene Musik, die ist heilig, egal wie mein Gefühl ist. Es gibt ja auch gute und schlechte Tage. Aber sicherlich wandelt sich die an sich fest einstudierte Interpretation von Abend zu Abend. Das liegt neben der Stimmung an vielen anderen Komponenten, zum Beispiel ob Sie einen harten Bösendorfer- oder einen eher weichen Steinwayflügel haben.

Gibt es eigentlich einen Komponisten, mit dem Sie gar nichts anfangen können?

Chopin habe ich erst relativ spät entdeckt. Zu Beginn meiner Karriere und meines Studiums in Deutschland haben mich natürlich Bach, Mozart und Beethoven geprägt, aber auch Strawinsky und Ravel.

 

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