Startseite » Interviews » Blind gehört » „Da ist solch eine Energie!“

Blind gehört Hansjörg Albrecht – Bruckner-Spezial

„Da ist solch eine Energie!“

Hansjörg Albrecht hört und kommentiert Bruckner-Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonMaximilian Theiss,

Nur selten brechen wir das übliche Format unserer „Blind gehört“-Reihe auf. Doch Anton Bruckners 200. Geburtstag ist Anlass genug, um (fast) nur Werke des großen Sinfonikers auf die geheime Playlist zu setzen. Dem Blind gehört stellte sich Hansjörg Albrecht. In den letzten Jahren spielte er sämtliche Bruckner-Sinfonien als Orgeltranskriptionen ein.

Bruckner: Sinfonie f-Moll WAB 99 – 1. Allegro molto vivace

Wiener Philharmoniker, Christian Thielemann (Leitung)
Sony 2023

Ich weiß, dass Thielemann das Stück letztens aufgenommen hat. Es könnten auch die Wiener sein. Oder aber – falls die Aufnahme älter sein sollte – Eliahu Inbal. Seine Bruckner-Einspielungen habe ich in den Neunzigern mit einem Freund rauf und runter gehört, wenn wir mit dem Auto vom Bodensee aus in die Berge gefahren sind. Inbal hatte, wenn ich mich richtig erinnere, auch diesen sehr frischen, kernigen Zugang, den man hier heraushört. – Thielemann mit den Wienern! Von der Studiensinfonie selbst bin ich total begeistert. Ich finde sowieso, dass die Doppelnull, also die Studiensinfonie, und die Nullte völlig zu Unrecht so hintangestellt werden. Darüber habe ich auch mit Christian Thielemann gesprochen, der die Schirmherrschaft über mein Bruckner-Projekt übernommen hatte. Er erzählte mir, dass selbst die Wiener die Doppelnull, die Nullte und die Erste über Jahrzehnte nicht gespielt hätten, bei der Einstudierung letztendlich aber begeistert gewesen wären. Bei dieser Aufnahme fällt die spezielle Hervorhebung der Bässe und des Unterbaus der Streicher auf. Bei der Orgel würde man sagen: Die Interpretation ist vom Pedal aus gedacht. Sehr breite Striche trotz des Scherzo-Charakters, sehr tenuto, es drängt trotz des hohen Tempos nicht nach vorne. Ich höre da auch Thielemanns Vorstellung von Orchesterkultur des späten 19. Jahrhunderts heraus.

Bruckner: Sinfonie Nr. 3 d-Moll – 3. Ziemlich schnell

Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons (Leitung)
Deutsche Grammophon 2016

Könnte in Richtung Blom­stedt oder Jansons gehen. Es ist wie bei Thielemann sehr tenuto gedacht, und man merkt, dass hier jemand darauf insistiert, die Noten so breit wie möglich zu spielen. Bei Blom­stedt geht es wirklich immer allein um die Sache. Schon als jüngerer Mann hat er immer um die Sache, um die Musik gerungen, zumindest höre ich das so in seinen Interpretationen heraus. – Es ist Andris Nelsons? Wow. Auch bei dieser Aufnahme hört man, wie die Musiker von Grund auf denken, von der breiten Bassbasis her, was auch der Klangqualität und der Klangschule des Gewandhausorchesters entspricht.

Bruckner: Sinfonie Nr. 4 Es-Dur – 3. Scherzo

Wiener Philharmoniker, Hans Knappertsbusch (Leitung)
Decca 1955

Harnoncourt? – Knappertsbusch?! Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen. Wahnsinn! Wir meinen heutzutage, dass die alten Dirigenten immer auch alt klingen. Aber was ich da jetzt heraushöre, diese Freude am klanglichen Experimentieren – das finde ich total genial! Deshalb kam ich eben auch auf Harnoncourt, weil er Dinge einfach ausprobiert hat. Aber auch Knappertsbusch liegt am Ende nahe: Er galt damals als einer der spektakulärsten und auch modernsten Dirigenten, das hört man hier wundervoll heraus.

Bruckner: Sinfonie Nr. 7 E-Dur – 2. Adagio

Orchestre des Champs-Élysées, Philippe Herreweghe (Leitung)
harmonia mundi 2004

Eigentlich ist dieser Satz ein Adagio, aber die Viertel hier sind doch ganz schön schnell. – Herreweghe! Es wäre jetzt interessant, zum Vergleich gerade den Anfang mit modernen Instrumenten zu hören. Herreweghe greift hier auf ein probates Mittel der historischen Aufführungspraxis zurück und führt die Phrasen zusammen, indem er die Tempi etwas schneller nimmt. So ist das Orchester fast in einem Andante drin. Bruckner schreibt ja ganz oft „gezogen“, man muss sich also bei den Phrasen Zeit nehmen. Trotz des flüssigen Tempos schafft es Herreweghe hier, dem Klang tatsächlich die Zeit zu geben, die er braucht, um sich zu entwickeln

Bruckner: Streichquintett F-Dur – 4. Finale

Leipziger Streichquartett, Hartmut Rohde (Viola)
MDG 2005

Ist das Hagen Quartett „erweitert“? – Ensemble Wiener Philharmoniker? – Leipziger Streichquartett! Man merkt, dass das Musiker sind, die Bruckner-Sinfonien spielen und mit Bruckners Orchestersprache bestens vertraut sind. Die Art der Bogenbehandlung ist sehr breit gedacht. Deshalb kam ich auch auf die Wiener. Aber auch die Musiker des Leipziger Streichquartetts haben durch ihr Spielen im Gewandhausorchester die entsprechende Brucknerexpertise.

Bruckner: Sinfonie Nr. 8 c-Moll – 1. Allegro moderato hr Sinfonieorchester, Eliahu Inbal (Ltg). Warner 1982

hr-Sinfonieorchester, Eliahu Inbal (Leitung)
Warner 1982

Sensationell. Jetzt haben wir Eliahu Inbal! Ist das ein deutsches Orchester? – Frankfurt? – Irre ist ja, wie Inbal gleich am Anfang die Musik rafft und ohne dass er das Tempo verzieht. Und dann der erste Blecheinsatz … Deswegen übrigens meine Frage nach dem deutschen Orchester: Die Art, wie das Blech spielt, wirkt hier fast schon angloamerikanisch. Aber genau das zeichnet ja eine herausragende Interpretation aus: dass man sie nicht in eine Schublade stecken kann. Herreweghe und die historische Aufführungspraxis, wie wir sie vorhin gehört haben, ist so eine besondere Herangehensweise. In diesem Fall ist es ein erfahrener Bruckner-Dirigent, der die Sinfonien mit vielen Orchestern gespielt hat und sie immer wieder neu entdeckt.

Bruckner: Messe e-Moll – 3. Credo

Chor des BR, Münchner Rundfunkorchester, Peter Dijkstra (Leitung)
BR Media 2024

Ist das ein Rundfunkchor? – Dijkstra? Es hätte auf jeden Fall nicht Jochum sein können, weil der BR-Chor unter ihm mit wahnsinnig viel Vibrato gesungen hat. Das hier ist sehr zusammengefasst und aus der heutigen Zeit – mit unserem aktuellen Wissen um Aufführungspraxis heraus – interpretiert. Die e-Moll-Messe ist insgesamt sehr anspruchsvoll und der Chor muss bei den A-cappella-Stellen absolut sauber sein. Hier ist das alles makellos. Toll.

Bruckner: Psalm 150

Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling (Leitung)
Hänssler 1997

Man merkt, dass da jemand diese Literatur nicht jeden Tag dirigiert. Von der Aufnahme her ist das weit weniger bass-orieniert als beispielsweise bei Thielemann. Der Klang ist großformatig, aber sehr klar, auch wohlstrukturiert, weit entfernt von diesem urromantischen Pathos. Ich meine herauszuhören, dass hier ein Chordirigent den Psalm dirigiert und niemand, der Bruckner vom Sinfonischen her kennt.

Kralik: Klaviertrio E-Dur op. 8 – 4. Prestissimo possibile

TONALi-Trio
Gramola 2024

Ist das Bruckner? – Mathilde Kralik, eine Bruckner-Schülerin! Sehr schön. Trotzdem könnte ich mir die Interpretation noch ein bisschen kerniger vorstellen, damit diese Musik mehr nach Improvisation, denn nach Komposition klingt. Es wirkt ein bisschen zu sehr festgehalten und könnte noch freier sein, gerade weil dieses Stück so tänzerisch angelegt ist.

Kralik: Klaviertrio E-Dur op. 8 – 4. Prestissimo possibile TONALi-Trio. Gramola 2024

Schaller. Man hört, dass es in einem Kirchenraum aufgenommen wurde, in diesem Fall in Ebrach. Schaller hat ja zwei Fassungen des Finalsatzes komponiert. Von einer „Rekonstruktion“ des unvollendeten Finalsatzes zu sprechen, wird meines Erachtens der Sache nicht gerecht, denn der Satz war ja in großen Teilen von Bruckner konzipiert, zumindest war schon unglaublich viel Material vorhanden. Ich habe diese zweite Fassung von Schaller beziehungsweise deren Orgelfassung eingespielt und deshalb bewusst nicht diese Aufnahme hier angehört. Ich war bei der Einstudierung an der Orgel begeistert von diesem Finale. Gerade die letzte Steigerung, wenn Bruckner nach D-Dur geht! Er braucht ja wirklich Seiten dafür, die ganze Musik zieht sich wie ein endloser Strom dahin – wie bei Filmschlüssen, wenn die Kameradrohne über einen Fluss fliegt, der sich in der Ferne verliert und in den Ozean mündet. Dieser Finalsatz ist wie eine Konklusion von Bruckners Leben. Deshalb würde ich bei dieser letzten Sinfonie eben nicht mit dem Adagio aufhören, wie es viele Kollegen machen, auch wenn dies der letzte von Bruckner vollendete Satz ist.

Bruckner: Helgoland

Chicago Symphony Chorus & Orchestra, Daniel Barenboim (Leitung)
Deutsche Grammophon 1980

Ist das Barenboim? – Ja, das ist natürlich ein Gang ins tiefste 19. Jahrhundert! Männerchöre sind heute verpönt, aber man muss sie in ihrer Entstehungszeit sehen. Unabhängig davon wirkt dieses Stück aber eher wie eine Handgelenksübung Bruckners und so gar nicht wie das letzte vollendete Werk eines großen Komponisten. Vermutlich hätte Bruckner da schon die Neunte oder den 150. Psalm als Schwanengesang vorgezogen. Trotzdem ist „Helgoland“ ein irres Stück.

Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll – 3. Adagio

Münchner Philharmoniker, Sergiù Celibidache (Leitung)
Warner 1995

Celi. Da ist solch eine Energie in der Interpretation! In diesem hohen Alter wird Celibidache schon gesessen haben während des Dirigierens. Aber wahrscheinlich hätte er da auch überhaupt nicht mehr dirigieren müssen, er hätte auch so schon eine unglaubliche Energie ausgestrahlt. Dieses fast schon unverschämt langsame Tempo! Da sind wir eigentlich schon bei Messiaens „François d’Assise“ und bei der Frage: Was ist Zeit? Spielt Zeit überhaupt eine Rolle? Hier, bei Celibidache, tut sie es nicht mehr.

Album-Tipp:

Album Cover für Bruckner: Sämtliche Sinfonien

Bruckner: Sämtliche Sinfonien

Termine

Auch interessant

Rezensionen

  • Singender Erzähler und erzählender Sänger:
    Blind gehört Julian Prégardien

    „Das holt mich nicht ab“

    Tenor Julian Prégardien hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer singt.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!

Klassik in Ihrer Stadt