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Interview Andrés Orozco-Estrada

„Konzertgänger sind neugieriger als je zuvor“

Nach Stationen als Chefdirigent beim hr-Sinfonieorchester und den Wiener Symphonikern wird Andrés Orozco-Estrada Generalmusikdirektor der Stadt Köln.

vonJan-Hendrik Maier,

Andrés Orozco-Estrada schaltet sich aus seiner Wahlheimat Wien zum Telefongespräch. In diesen Tagen tritt der 47-Jährige sein Amt als Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor der Stadt Köln an. Worauf sich der gebürtige Kolumbianer in seiner ersten Saison in der Domstadt freut und was er zur lang ersehnten Wiedereröffnung der Kölner Oper plant, erzählt er im Interview.

Im Januar 2012 haben Sie erstmals das Gürzenich-Orchester dirigiert. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Andrés Orozco-Estrada: Das Orchester ließ sich animieren und hat sofort mit Schwung, Freude und Flexibilität mitgemacht. Auf dem Programm standen Rachmaninows „Sinfonische Tänze“, ein rhythmisch sehr schwieriges Stück. Auch zwischenmenschlich war das eine angenehme und respektvolle erste Begegnung.

Mit welchen Gefühlen übernehmen Sie Ihr neues Amt?

Orozco-Estrada: Natürlich bin ich voller Vorfreude, aber ich spüre auch große Verantwortung. Ich will gemeinsam mit dem Orchester viel leisten und schöne Erlebnisse auf beiden Seiten schaffen. Das ist meine erste Stelle als Generalmusikdirektor, entsprechend bin ich besonders neugierig auf alles, was damit einhergeht. Und ich freue mich auch riesig auf die Oper.

Welche künstlerische Vorstellung bringen Sie mit?

Orozco-Estrada: Die Qualität des Orchesters ist enorm. Unabhängig vom Repertoire ist für mich das Wichtigste die Art und Weise, wie wir musizieren. Damit meine ich die Präzision, die Tiefe und das Verständnis von der Musik, aber auch die seelische Verbindung zum Stück. Wir sollten durch die Musik immer etwas erzählen.

Wie möchten Sie vom Orchester gesehen werden?

Orozco-Estrada: Ich will den Musikerinnen und Musikern Inspiration sein. Hoffentlich haben sie das Gefühl, sie bekommen von mir genau das, was sie brauchen. Ich diene der Musik und den Musikern mit vollstem Respekt und wünsche mir, dass wir gemeinsam in freundschaftlichem Austausch und emotional investiert an die Stücke herangehen.

Den Auftakt zu Ihrer ersten Spielzeit geben Sie mit „Carmina Burana“. Was bedeutet Ihnen das Werk?

Orozco-Estrada: Ich blicke darauf mit positiver Melancholie. Als Achtjähriger habe ich die „Carmina“ im Kinderchor mitgesungen, dann habe ich sie als Geiger im Orchester gespielt, einige Jahre später durfte ich den Chor vorbereiten, und schließlich habe ich sie selbst dirigiert. Ich schätze diese emotionale Verbindung sehr. Vor allem aber wollen wir am Saisonanfang den Kölner Bürgerchor einbeziehen. Es ist sicherlich etwas Schönes, wenn wir von Beginn an gemeinsam auf der Bühne stehen und die Freude, den Rhythmus und die Energie, die von „Carmina Burana“ ausgehen, erleben.

Musikvermittlung, Teilhabe und Familienkonzerte haben in Köln eine lange Tradition. Wie bringen Sie sich hier ein?

Orozco-Estrada: Ich dirigiere zwar kein Familienkonzert, lade aber zu offenen Proben ein. Ich möchte mit Menschen ins Gespräch kommen und ihre Fragen beantworten. Ich habe mir auch vorgenommen, ein Wunschkonzert zu organisieren, über dessen Programm das Publikum abstimmen darf, auch wenn das für mich selbst Neuland ist. Ich bin neugierig, was sich in den nächsten Spielzeiten alles entwickeln kann. Der pädagogische, didaktische Anteil wird sicherlich zunehmen.

Die Programme in Ihrer ersten Saison verbinden stets Vertrautes mit zeitgenössischer Musik.

Orozco-Estrada: Das ist keine geniale neue Idee von mir, aber solche Kombinationen halten ein Orchester lebendig. Das hat sich etwa gezeigt, als wir im Sommer hier Schostakowitschs fünfte Sinfonie und Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ ohne Pause gespielt und so eine Brücke gebaut haben. Wichtig ist, dass alle Beteiligten das Programm als organisch und überzeugend wahrnehmen. Nur dann können wir das dem Publikum ebenso frisch und offen vermitteln, und die Menschen bleiben neugierig. Köln ist aber ohnehin eine Stadt, in der vieles uraufgeführt wurde und wird. Da liegt es auf der Hand, das Kernrepertoire mit Modernem zu kombinieren.

Möchte den Orchestermusikern eine Inspiration sein: Andrés Orozco-Estrada
Möchte den Orchestermusikern eine Inspiration sein: Andrés Orozco-Estrada

Hat Neue Musik beim Publikum noch ein Akzeptanzproblem?

Orozco-Estrada: Ich glaube, es kommt darauf an, was man unter Neuer Musik versteht. Neue Musik im Sinne von sehr experimenteller Musik findet vielerorts weniger Resonanz. Auf der anderen Seite denke ich, wenn man das aus voller Überzeugung präsentiert, in Kombination mit ergänzenden Werken und mit etwas mehr Vorbereitung bei der Ankündigung des Konzerts oder auf der Bühne selbst, dann ist das Publikum nicht abgeneigt. Konzertgänger sind neugieriger als je zuvor.

Sie treten mit dem Anspruch an, „alle Kölnerinnen und Kölner mit Musik und für die Musik zu begeistern.“ Wie wollen Sie das etablierte Publikum erhalten und zugleich neue Zuhörer für das klassische Konzert gewinnen?

Orozco-Estrada: Künstler und Publikum brauchen einander. Das sollte man beim Planen von Programmen immer bedenken und nicht nur Werke aufführen, die dem eigenen Ego schmeicheln. Klassik wird nicht als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Das ist keine Unterhaltungsmusik, die einfach da ist. Wir brauchen also ein Publikum, das für uns eintritt, uns auch medial weiterträgt. Ich habe bisher bei den Kölnerinnen und Kölnern oft eine karnevalartige Freude erlebt und gespürt, wie emotional verbunden sie die Musik aufnehmen. Das Wichtigste ist aber, dass auch wir als Künstler von einem Stück absolut überzeugt sind. Nur dann kann man es mit Qualität präsentieren. Wir müssen neugierig bleiben.

Wie beschreiben Sie Ihre Beziehung zur Oper?

Orozco-Estrada: Als 19-jähriger Student in Wien habe ich meine erste Oper erlebt und wurde rasch Stammgast in der Staatsoper, erfüllt von Liebe, Begeisterung und Respekt für diese Welt. Ich bin bis heute fasziniert von der wichtigen Rolle des Orchesters, das – auch wenn es nicht im Vordergrund steht – all die Gefühle in der Musik vermitteln muss, und von der Interaktion zwischen Schauspiel und Gesang auf der Bühne. Jede Oper ist für mich ein Abenteuer, das mich aufs Neue herausfordert und an meine Grenzen bringt. Ich bin nach jeder Aufführung wahnsinnig erschöpft, aber gleichzeitig, wenn alles gut gegangen ist, auch stolz und glücklich.

Seit Ihrer Vorstellung als GMD wurde die Wiedereröffnung der Oper am Offenbachplatz mehrmals verschoben. Wie blicken Sie auf dieses Thema?

Orozco-Estrada: Es begleitet mich schon seit meinem Debüt beim Gürzenich-Orchester, denn ich wurde bereits für die Nachfolge von Markus Stenz angefragt. Damals war eine Wiedereröffnung für 2015 anvisiert. Aber wissen Sie, ich bin neu hier, ich halte das auch noch eine Saison im Interim im Staatenhaus aus. Ich denke vielmehr an die Musikerinnen und Musiker, die seit mehr als einem Jahrzehnt auf das Haus warten und dennoch so motiviert geblieben sind. Ich bin grundsätzlich ein Optimist und freue mich wie jeder hier auf die hoffentlich baldige Fertigstellung des Opernhauses. Wir werden die neue Spielstätte dann voll und ganz auskosten.

Haben Sie schon eine Idee für die Eröffnungspremiere?

Orozco-Estrada: Ich möchte auf jeden Fall eine Oper aus der deutschen Spätromantik, die ja das Kernrepertoire des Orchesters ist, aufführen, aber das soll noch eine Überraschung bleiben. Es wird auf jeden Fall ein Stück voller Freude und Party!

Aktuelles Album:

Album Cover für Future Horizons

Future Horizons

Bacri: Notturno op. 74, Jarrell: Aquateinte, Escaich: Konzert für Oboe, Violine & Orchester. François Leleux (Oboe & Leitung), Lisa Batiashvili (Violine), hr-Sinfonieorchester, Andrés Orozco-Estrada (Leitung). Pentatone

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