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Interview Alexey Shor

„Das Wichtigste ist, dass Musik Emotionen ausdrückt“

Im Interview spricht der Komponist Alexey Shor über seine Liebe zur Violine, das Entstehen neuer Werke und seine ukrainische Herkunft.

vonGregor Burgenmeister,

Was bedeutet es für Sie, dass mehrere Ihrer Werke von jungen Künstlern bei einem so hochkarätigen internationalen Wettbewerb gespielt werden?

Alexey Shor: Für mich ist es nicht so anders als bei einem regulären Konzert, weil ich nicht in der Jury bin. Natürlich ist es für die Teilnehmenden sehr aufregend – das Niveau des Wettbewerbs ist wirklich großartig. Alle Aufführungen waren bisher sehr unterschiedlich und einprägsam. Es ist beeindruckend.

Was macht die Violine für Sie als Komponist besonders – und wie nähern Sie sich dem Komponieren für dieses Instrument?

Shor: Ich liebe einfach, wie sie klingt. Einige meiner liebsten Werke habe ich für Violine geschrieben – sie hat eine enorme Ausdruckskraft. Wenn ich Musik im Kopf höre, ist sie oft automatisch für Violine gedacht. Ich glaube, es gibt da eine Art natürliche Schwerkraft in mir. Ich spiele leider selbst keine Violine – deshalb verbringe ich viel Zeit damit herauszufinden, was auf ihr überhaupt spielbar ist.

Wie nähern Sie sich dem konkret – wie stellen Sie sicher, dass das, was Sie schreiben, spielbar ist?

Shor: Am Anfang habe ich einfach viele Partituren gelesen – das war eine Art Mustererkennung. Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, was genau funktioniert, aber ich habe ein Gefühl dafür bekommen. Ich versuche, auf der sicheren Seite zu bleiben, es sei denn, etwas ist mir besonders wichtig.

In welchem Abschnitt Ihres Lebens sind die hier gespielten Werke entstanden – spiegeln sie bestimmte persönliche oder künstlerische Phasen wider?

Shor: Ich denke nicht in solchen Phasen wie „Ich bin traurig, also schreibe ich ein trauriges Stück“. Aber natürlich gibt es eine Verbindung zwischen der Musik, die in meinem Kopf auftaucht, und dem Ort, an dem ich mich im Leben befinde. Zum Beispiel fühlt sich mein viertes Violinkonzert optimistisch an – wie ein Entdecker, der einen gefährlichen Ozean überquert, aber voller Hoffnung ist. Das fünfte Konzert ist dunkler – fast wie ein innerer Kampf. Und das sechste Konzert hat eine besondere Geschichte: Es war ursprünglich für Bandonéon geschrieben. Dann sagten mehrere Geiger, es wäre schön, das für Violine zu haben. Also habe ich es bearbeitet. Es fühlt sich immer noch nicht wie ein typisches Violinkonzert an – es hat noch diesen lateinamerikanischen Einschlag.

Gab es im Wettbewerb einen Auftritt, der Sie besonders berührt hat?

Shor: Das Niveau ist insgesamt sehr hoch. Natürlich habe ich meine Favoriten, aber es ist noch zu früh, das zu bewerten – ich bin ja nicht in der Jury.

Inspiriert Sie der Wettbewerb dazu, noch mehr für Violine zu schreiben?

Shor: Ja. Wenn ich eine gute Aufführung höre, ist das immer eine Inspiration. Kürzlich wurde mein siebtes Konzert uraufgeführt – für Posaune. Aber weil mich so viele Geiger und Cellisten ansprechen, denke ich darüber nach, ein Doppelkonzert für Violine und Cello zu schreiben. Das wäre mal etwas anderes – ich habe gerade zwei große Einzelkonzerte abgeschlossen. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt für etwas Unkonventionelleres.

Woran arbeiten Sie im Moment – und in welche Richtung entwickelt sich Ihre Musik?

Shor: Ich bin fast fertig mit einer Cellosonate. Alles andere ist noch im Ideenstadium. Ich kann also nicht sagen, dass ich konkret an etwas arbeite – aber es brodelt im Hintergrund. Was die Richtung betrifft: Ich denke nicht bewusst darüber nach. Aber wenn ich mein erstes Violinkonzert mit meinem aktuellen vergleiche, sind sie völlig unterschiedlich. Irgendetwas verändert sich also in mir – aber es ist kein bewusster Wandel, eher ein natürlicher Prozess.

Wie hat Ihre Herkunft – aufgewachsen in der Ukraine, heute in den USA – Ihre Identität als Komponist geprägt?

Shor: Ich denke, das läuft weitgehend unbewusst ab. Die Musik, die ich liebe, ist klassische Musik – und die meisten Komponisten, die ich bewundere, sind weder Russen noch Ukrainer. Aber manche sagen, sie hörten einen slawischen Akzent in meiner Musik – das kommt vielleicht aus meiner Kindheit, von der nicht-klassischen Musik, die mich damals umgeben hat.

Vermissen Sie die Ukraine?

Shor: Ich bin mit fünfzehn aus der Ukraine geflohen – nach der Tschernobyl-Katastrophe. Ich war seither nur selten dort. Ich habe also nicht diese nostalgische Sehnsucht wie manche, die durch Revolutionen entwurzelt wurden. Die Welt ist heute global – das ist etwas ganz anderes als früher. Ich habe den Kontakt nie verloren. Es ist nicht wie bei den weißen Emigranten nach der russischen Revolution, die jahrzehntelang keinen Kontakt mehr zu ihren Verwandten hatten. Ich habe mich in Amerika gut eingelebt.

Sie haben ursprünglich Mathematik studiert – spielt das eine Rolle in Ihrer Musik?

Shor: Mathematik war für mich sehr hilfreich. Sie hat mir geholfen, Musiktheorie schnell zu verstehen. Ich sage auch meinen Kindern: Lernt Naturwissenschaften – nicht weil ihr Wissenschaftler werden müsst, sondern weil es hilft, klar zu denken. Aber heute spielt Mathematik keine direkte Rolle in meiner Musik. Vielleicht ein bisschen auf ästhetischer Ebene – etwa bei symmetrischen Phrasenlängen. Aber das ist eher Intuition als Rechnen.

Ihre Musik wirkt sehr emotional und melodisch – ganz anders, als man es vielleicht von jemandem mit mathematischem Hintergrund erwarten würde.

Shor: Ja, für mich ist das Wichtigste, dass Musik Emotionen ausdrückt. Das Publikum soll schnell spüren, worum es geht. Zwölftonmusik hat mich nie angesprochen. Ich weiß gar nicht genau, was das ist – für mich ist das keine Musik. Ich komponiere sehr intuitiv. Später überprüfe ich dann, ob z. B. eine lyrische Passage zu lang ist. Aber der Impuls kommt immer aus dem Gefühl.

Wer ist Ihr Lieblingskomponist?

Shor: Bach. Für mich ist er der Größte. Natürlich gibt es in seiner Musik auch mathematische Strukturen – Kanons, die man vorwärts und rückwärts spielen kann. Das ist alles beeindruckend. Aber selbst wenn es das alles nicht gäbe, wäre seine Musik immer noch überwältigend – wegen ihres emotionalen Gehalts.

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