Wer im sommerlichen Luzern den Blick über den Vierwaldstättersee zu den Gipfeln von Rigi und Pilatus schweifen lässt, spürt ein Gefühl von Grenzenlosigkeit. Mit seinem Motto „Open End“ knüpft Lucerne Festival an diese Idee an, feiert bewusst das Unvollendete in der Musik und gibt entstehenden Werken einen Raum. Insgesamt wartet das größte Klassikfestival der Schweiz vom 12. August bis 14. September mit etwa 120 Veranstaltungen auf. Zugleich endet nach 26 Jahren die Ära von Intendant Michael Haefliger.

Lucerne Festival Orchestra setzt Rachmaninow-Zyklus fort
Im Eröffnungskonzert am 15. August gehört die Bühne des KKL Luzern zunächst der Künstlerin Winnie Huang, die mit einem Auszug aus ihrer neuen Performance „nexus of now“ auf die Saison einstimmt. Im Anschluss übernehmen das Lucerne Festival Orchestra (LFO) und sein Chefdirigent Riccardo Chailly. Sie stellen Pierre Boulez‘ „Mémoriale“ Mahlers innigen „Rückert-Liedern“ gegenüber, gesungen von Elīna Garanča, sowie die vom Komponisten unvollendete zehnte Sinfonie in der Fassung von Deryck Cooke. Am 19. August setzt das Ensemble seinen 2019 begonnen Rachmaninow-Zyklus fort, als Solistin ist Pianistin Beatrice Rana zu erleben. „Ins Unendliche“ stößt indes Simon Rattle bei seinem Debüt am 23. August mit dem LFO vor, wenn Mahlers Spätwerk „Das Lied von der Erde“ – stimmlich prominent mit Magdalena Kožená und Clay Hilley besetzt – auf Schostakowitschs erste Sinfonie trifft. Mit Andrés Orozco-Estrada und Yannick Nézet-Séguin kehren für zwei weitere Konzerte die Dirigenten zum Festivalorchester zurück, ihrerseits begleitet von Geigerin Isabelle Faust bzw. Pianist Seong-Jin Cho.

Musikalische Klänge und körperliche Gesten gehen Hand in Hand
Vor einigen Jahren spielte Winnie Huang noch als Geigerin in der Lucerne Festival Academy, 2018 trat sie hier erstmals als Performerin in Erscheinung. Mittlerweile prägt die 1986 in Shanghai geborene Multi-Instrumentalistin und Komponistin als „Contemporary Leader“ die Zukunftssparte des Festivals mit. In diesem Sommer lotet sie als „artiste étoile“ die Verbindung von musikalischen Klängen und körperlichen Gesten aus. Allein 70-mal wird sie dabei in der Kurzperformance „tend“ auf Mimik und Körpersprache eines einzelnen Gasts reagieren. Im ehemaligen Kino Moderne Bar & Karussell betritt Huang wiederum neue Welten, wenn sie Jessie Marinos und Constantin Basicas eigens für diesen Ort geschaffene 270-Grad-Projektion mitgestaltet. An ihre Anfänge als Tanz-Mimin knüpft sie zudem mit Karlheinz Stockhausens ritueller Choreografie „Inori“ an, die Huang selbst als Wendepunkt ihrer Biografie bezeichnet.

Violakonzerte in neuem Gewand
Mit Spannung wird auch Bratschistin Tabea Zimmermann erwartet, die ebenso als „artiste étoile“ ganz unterschiedliche Akzente setzt. Zunächst spannt sie gemeinsam mit Solisten des LFO in einer Matinee den Bogen von Hildegard von Bingen zu zeitgenössischen Werken von Sofia Gubaidulina, György Kurtág und Luciano Berio. Ihre Expertise in der Neuen Musik stellt sie überdies in Dieter Ammanns Violakonzert „No Templates“ unter Beweis, das zum zweiten Mal überhaupt in Luzern erklingt. In der Reihe „40min“ erhalten Interessierte zudem Einblicke in Zimmermanns Probenarbeit mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO). Ihre Residenz beschließt sie mit Bartóks Bratschenkonzert, dessen unvollendetes Finale die Virtuosin auf Grundlage von Notizen des 1945 verstorbenen Komponisten neu eingerichtet hat. Den Schwanengesang umrahmen das Mahler Chamber Orchestra und Shooting-Star Maxim Emelyanychev mit Mozarts Jugendsinfonie D-Dur KV 133 und Tschaikowskys schicksalhafter Fünfter.

Weltklasseorchester gastieren in Luzern
Auch jenseits der Fokuskünstler bietet das Festival hochkarätige Orchestermusik. Zahlreiche der weltweit gefragtesten Spitzensembles gestalten den Konzertreigen im Herzen der Schweiz mit. So reisen mit dem Orchestre de Paris unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen, dem Orchestre Philharmonique de Radio France unter Mirga Gražinytė-Tyla und den Alte-Musik-Experten Les Arts Florissants mit ihrem Gründer William Christie gleich drei Hochkaräter aus Frankreich an. Die Berliner Philharmoniker und Chefdirigent Kirill Petrenko wandeln auf den Spuren von Schumann und Mahler, die Wiener Philharmoniker und Franz Welser-Möst kontrastieren Berg und Bruckner mit Mozart und Tschaikowsky, und Klaus Mäkelä kommt mit dem Royal Concertgebouw Orchestra und Stargeigerin Janine Jansen. Auch die „artiste étoile“ des Vorjahres, Lisa Batiashvili, gibt sich die Ehre. Ebenso haben sich Anne-Sophie Mutter, Lang Lang, Martha Argerich, Sol Gabetta und Wayne Marshall angekündigt.
Mit der längst zur Institution gewordenen Lucerne Festival Academy haben seit 2004 zeitgenössische Musik und Uraufführungen einen unumstößlichen Platz im Programm erhalten. In dieser Ausgabe richtet sich der Blick einerseits auf Musik des Akademiegründers Pierre Boulez, der im März 100 Jahre alt geworden wäre, andererseits ist mit composer-in-residence Marco Stroppa ein Weggefährte aus dessen Zeit am Pariser IRCAM präsent.

Lucerne Festival Ark Nova erstmals in Europa
Die wohl weiteste Anreise hat jedoch die Lucerne Festival Ark Nova aus Tokio, eine aufblasbare Konzerthalle, die vom 4. bis 14. September auf der Lido-Wiese beim Verkehrshaus der Schweiz Stellung bezieht und Bühne für viele kurze Auftritte sein wird. Erstmals ist das Kunstobjekt einem europäischen Publikum zugänglich. Seinen Ursprung hat es in Luzern: Michael Haefliger, der britisch-indische Künstler Sir Anish Kapoor und der japanische Architekt Arata Isozaki sowie der japanische Agent Masahide Kajimoto konzipierten die Ark Nova nach dem verheerenden Erdbeben 2011 mit dem Ziel, den Menschen in der japanischen Region Tōhoku mit einem musikalischen Programm Mut, Hoffnung und Zuversicht zu schenken. Ein Projekt von vielen, auf das Publikum und zahlreiche Künstler beim dreistündigen Konzertmarathon „Les Adieux“ am 14. September zurückblicken, wenn sie Michael Haefliger verabschieden.