Es mag müßig sein, darüber nachzudenken, was aus Weimar wohl geworden wäre, wenn Johann Wolfgang von Goethe es 1775 nicht bis zu seinem Tode 1832 besiedelt hätte. Die Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach hatte vor 250 Jahren nach Ansicht ihres 18-jährigen Regenten Carl August eine kulturelle Auffrischung im Sinne der Aufklärung bitter nötig, und nachdem er auf seiner bildenden „Kavalierstour“ den acht Jahre älteren und bereits erfolgreichen Dichter in Frankfurt auf Vermittlung Herders kennengelernt hatte, wollte er nichts dringender, als ihn nach Thüringen zu holen, um Weimar kulturell, politisch und wirtschaftlich zu reformieren.
Dass diese vielseitige Partnerschaft zwischen Goethe und dem Herzog über 50 Jahre hielt, bescherte der Stadt nicht nur tatsächlich einen erheblichen Aufschwung, sondern machte sie auch im kulturellen Gedächtnis bis hin zur Gründung der ersten deutschen Republik und des Bauhauses unsterblich, auch wenn die an sich schlichte thüringische Kleinstadt auch heute noch gerade einmal 65.000 Einwohner zählt und trotzdem bereits europäische Kulturhauptstadt war. Weimar vereint wie kaum eine andere Stadt Bratwurst-Idylle mit innovativer Prosperität, Fachwerkgemütlichkeit mit weit vorausweisender Ästhetik, entzückende Natur mit Welterbe-Kultur.

Mit dieser ambivalenten und zugleich inspirierenden Tradition spielt nicht zuletzt auch das Renommee des hiesigen Kunstfests – mit seiner bereits 1990 initiierten Gründung eines der ältesten Festivals auf ostdeutschem Boden. Unter der Leitung des in diesem Jahr scheidenden Intendanten Rolf C. Hemke nahm es – schon allein des historischen Ortszaubers wegen – immer wieder auch Bezug auf aktuelle politische Strömungen, setzte sich zuletzt mit den Landtagswahlen im vergangenen Jahr auseinander.
Veränderung, Freiheit und Wagnis
Unter dem Motto „Mutig leben“ will es in diesem Jahr vom 20. August bis zum 7. September dazu einladen, Kunst als Ausdruck von Veränderung, Freiheit und Wagnis zu erleben. Denn „Austausch über Würde und Widerstand in Zeiten der Gefahr“, wie etwa eine vierteilige Diskussionsreihe im Rahmen des Festivals betitelt ist, mag zwar angesichts der global erlebten Erosion von Menschenwürde und Wachsamkeit in der Zivilgesellschaft nur einen bescheidenen Beitrag leisten können, die Zuversicht der Vernünftigen zu bewahren. Und doch ist es ein Beitrag: nämlich einer, der Zauderern wie Desillusionierten das Verantwortungsgefühl stärken kann, in einer Welt voller Widrigkeiten nicht den Mut zu verlieren, nach Aufklärung und Verständnis zu suchen, mit dem Glauben an die Fortschrittlichkeit des Humanismus dem Fatalismus die Stirn zu bieten.

Womit wir wieder bei Goethe wären, dessen all diese Fragen behandelndes Lebenswerk „Faust“ 1775 zwar noch längst nicht fertiggestellt, aber in seinen Gedankenwelten schon längst in Bewegung geraten war. Erst posthum wurde der Tragödie zweiter Teil veröffentlicht – und als Gesamtwerk zum Opus summum des Dichterfürsten. Daher spielt es auch eine der Hauptrollen im Programm des diesjährigen Kunstfestes, und zwar gleich mehrfach in zeitgenössischer Gestalt: Unter dem Titel „FaustX“ betritt ein sehr heutiger Suchender die Bühne und lässt in der Inszenierung des südafrikanischen gefeierten Regisseurs Brett Bailey eine neue, postkoloniale Lesart als internationale Koproduktion für Weimar entstehen. Dieser Faust nämlich, der seine Seele ebenso wie der historische an Mephisto verkauft hat, mischt sich in die Wirtschaft des globalen Südens ein und spielt Krieg am Rande Europas. Er stößt große Pläne zur technologischen Expansion an, um die Natur, die Gesellschaft und nicht zuletzt ferne Planeten zu beherrschen.
Als Gegenentwurf betritt 30 Jahre nach ihrer Weimarer Uraufführung William Kentridges legendäre Produktion „Faustus in Africa“ erneut die Bühne, auf der mit Hilfe von Puppenspiel und Animation Fausts Untergang in einen kolonialen Kontext gestellt wird. Aber auch ortsansässige Künstler kommen in der Faust-Feier zu Wort: Auf das junge Weimarer Stellwerk-Theater und seine moderne und interaktive Adaption des zweiten Tragödienteils darf insbesondere das Publikum ab 15 Jahren gespannt sein.
Kulturelle Vielfalt mit enormer Spannweite
Das Kunstfest Weimar wäre aber nicht das Kunstfest Weimar, wenn es neben seinem Programmschwerpunkt nicht auch noch weitere Genres wie legendäre Tanz- und Zirkusaufführungen, Lesungen, Filme und Vorträge anböte, die die erschütternden Entwicklungen unserer Zeit reflektieren. Von Videoinstallationen zu neofaschistischer Ästhetik über eine interaktive Tanzperformance mit dem Publikum auf dem Theaterplatz bis hin zur Uraufführung der exilrussischen Schriftstellerin Jelena Kostjutschenko über ihr Heimatland am Abgrund, von innovativem Kindertheater über eine Hörspiel-Performance quer durch Weimar bis zum modularen Komponieren des Weimarer Bauhaus-Absolventen Martin Kohlstedt dehnt sich der Kunstbegriff derart weit, dass wohl kaum ein Festival so viel Anziehungskraft entwickelt wie das in Weimar.

Man könnte sogar sagen, dass diese kulturelle Vielfalt des Programms der faustischen Erkenntnissehnsucht zu folgen scheint. Auch die Diversität der Konzerte lässt die Begeisterung eines ebenso diversen Publikums erwarten, denn hier gilt unausgesprochen das Faust-Zitat „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“: Zwischen den spannungsvollen Klängen der Britin Anna Meredith und dem traditionellen Gedächtnis-Konzert im nahen Buchenwald mit dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms ist die Spannweite so groß, dass wahrscheinlich auch der vielseitig interessierte Johann Wolfgang von Goethe seine Freude daran gehabt hätte.