Schon immer gab es viele verschiedene Perspektiven auf die Welt. Entscheidend für das friedliche menschliche Zusammenleben ist, ob unterschiedliche Weltbilder zu Abgrenzungen führen oder in einen Dialog miteinander treten – wie beim 28. Heinrich Schütz Musikfest vom 2. bis zum 12. Oktober 2025. Die mehr als 40 Konzerte, Vorträge, Ausstellungen und Führungen, musikalischen Gottesdienste und Vespern in Dresden, Bad Köstritz, Gera, Weißenfels und Zeitz stehen unter dem Motto „Weltsichten. Zwischen den Zeiten“ und lassen die protestantische Kirchenmusik des frühbarocken Meisters in mannigfaltigen Kontexten aufscheinen. So spiegelt sich Schütz’ Chor- und Orgelmusik in den Kompositionen seiner Zeitgenossen ebenso wie in der Gegenwartsmusik, in der Poesie ebenso wie in den Naturwissenschaften, wovon besonders die vier verschiedenen Programme Zeugnis ablegen, mit denen der diesjährige Residenzkünstler Gregor Meyer seine ganz persönliche Sicht auf Heinrich Schütz und sein Werk ins Spiel bringt.

Alte Fragen, neue Antworten
Der vielseitige Dirigent, Pianist, Organist und Komponist leitet seit 2007 den GewandhausChor Leipzig, hat 2014 das Ensemble 1684 gegründet und tritt mit beiden Klangkörpern auch im Rahmen des Heinrich Schütz Musikfests auf. Tief in der historischen Aufführungspraxis verwurzelt, begreift der studierte Kirchenmusiker die Alte Musik als Klangraum für existenzielle Fragen, die die Menschen im 17. Jahrhundert wie heute gleichermaßen bewegen – wobei nur die Antworten sich geändert haben. So hat Meyer für den musikalischen Dialog „zwischen den Zeiten“ eine Quantenphysikerin, eine Meteorologin, Klimawissenschaftlerin und angehende Astronautin, einen Bestatter sowie den Kammerchor des Clara-Wieck-Gymnasiums Zwickau eingeladen, um unter den Themen „Resonanz“, „Transzendenz“, „Mikrokosmos“ und „Makrokosmos“ sowie in verschiedenen Besetzungen Brücken in die Gegenwart zu bauen.
„Resonanz“ finden in einem Konzert mit dem Ensemble 1684 und dem Kammerchor des Clara-Wieck-Gymnasiums Zwickau barocke Chorwerke von Heinrich Schütz und Johann Rosenmüller in einem „Spiegelwerk“ des Leipziger Universitätsorganisten Daniel Beilschmidt, unterlegt mit Texten, in denen Zwickauer Schülerinnen und Schüler ihre Wünsche und Vorstellungen für die gegenwärtige Welt artikulieren.

Musik trifft Quantenphysik
In die Sphären der „Transzendenz“ führt das 2010 entstandene Werk „Prosopopeia – A Study of Personification“, mit dem die italienische Komponistin Lucia Ronchetti Schütz’ „Musikalische Exequien“ aufgreift und einem barocken Ritual ähnlich umspannt. Die 1636 komponierte Totenmesse und ihr zeitgenössischer Kommentar – klanglich veredelt von Mitgliedern des GewandhausChores und des Gewandhausorchesters Leipzig – werden reflektiert von Trauerredner Eric Wrede.
Den „Mikrokosmos“ nimmt im „Internationalen Jahr der Quantenphysik“ 2025 ein doppelt aufgeführtes Konzert unter die Lupe, in dem der Komponist und Arrangeur Philipp Rumsch sowie sechs Vokalsolistinnen und -solisten auf die Dresdner Quantenphysikerin Prof. Dr. Elena Hassinger treffen. Winzigste Teilchen werden dabei in Heinrich Schütz’ „Kleinen geistlichen Konzerten“ ebenso aufgespürt wie in den atomaren und subatomaren Bereichen der modernen Physik.

Wiedererstaufführung nach 300 Jahren
Querverbindungen zwischen barockem Denken und moderner Wissenschaft entstehen auch beim Hineinhorchen in den „Makrokosmos“. Mitglieder des GewandhausChores und des Ensembles 1684 stoßen mit Auszügen aus den groß besetzten „Psalmen Davids“ und „Symphoniae sacrae“ III von Heinrich Schütz sowie Werken von Johann Rosenmüller in Bereiche vor, die das irdische Dasein übersteigen. Weltumspannende Perspektiven nimmt dabei auch die Meteorologin, Klimawissenschaftlerin und angehenden Astronautin Insa Thiele-Eich ein.
Ein weiteres Mal stehen die „Musikalischen Exequien“ von Heinrich Schütz auf dem Programm, wenn die Sängerinnen und Sänger des Ensemble Polyharmonique mit drei barocken Sterbemusiken klingende Zeugnisse vom Umgang mit Tod, Trost und Ewigkeit entfalten. Neben Bachs geistlicher Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ – auch bekannt als „Actus tragicus“ – wird eine wahre Rarität geboten: Michael Wiedemanns dreiteiliges „Epitaphium Musicum“, das nach über 300 Jahren nun in einer Wiedererstaufführung zu erleben ist.

Hochkarätige Festivaldebüts
Ein weiterer Stern am Firmament der Alten Musik ist Monika Mauch, die mit „Tears from the Soul“ ihr Solo-Debüt beim Heinrich Schütz Musikfest gibt. Zusammen mit dem fünfköpfigen Ensemble The Earle His Viols spürt die Sopranistin in Liedern von William Byrd, John Bull, Thomas Tallis und anderen der in der Renaissance vorherrschenden Vorstellung der Vanitas, der Vergänglichkeit alles irdischen Seins, nach.
Ein weiteres Musikfest-Debüt feiert der Lautenist und Sänger Joel Frederiksen mit seinem Ensemble Phoenix Munich. „Requiem for a Pink Moon“ ist eine Hommage an den britischen Singer-Songwriter Nick Drake, der 1974 mit nur 26 Jahren verstarb. Mit Laute, Theorbe und Viola da Gamba überführen die vier Musiker Drakes filigrane Folk-Song-Perlen in den Klangkosmos des 16. und 17. Jahrhunderts und stellen ihnen Lieder von John Dowland und Thomas Campion an die Seite.
Ein weiteres Festival-Highlight bietet das hochkarätig besetzte Hathor Consort der Gambistin Romina Lischka, das sich zusammen mit vier Sängerinnen und Sängern auf die Suche nach der Zahlenmystik in Werken von Heinrich Schütz, Johann Christoph Bach, Matthias Weckmann und Franz Tunder begibt. Unter dem Titel „Himmlisch Maß und irdisch Klang“ wird die Musik als Abbild göttlicher Ordnung gefeiert. Halt geben und Zuversicht spenden kann sie auch und gerade in einer polarisierenden, fragmentierten Welt wie der heutigen. Beim Heinrich Schütz Musikfest wird diese Überzeugung zehn Tage lang zur facettenreich klingenden Realität.