Zwischen dem 10. und 16. Juli wird die Ostseeküste Polens wieder zum Zentrum eines Festivals, das sich längst als eines der aufregendsten Opernereignisse Europas etabliert hat: Das Baltic Opera Festival, initiiert von Bariton Tomasz Konieczny, geht in seine dritte Runde. In Sopot und Danzig, zwischen Waldtheater, Werfthalle und gotischer Backsteinkirche, entfaltet sich eine künstlerische Landschaft, in der Musik, Geschichte und Gegenwart aufeinandertreffen – schroff, schön und verstörend aktuell.
Das diesjährige Motto „Einsamkeit des Wanderers“ ist mehr als ein poetisches Etikett: Es zieht sich wie ein roter Faden durch das Programm und berührt Themen, die in unserer krisenerschütterten Zeit unter die Haut gehen. Ob im Exil, im Widerstand, in religiöser Ekstase oder kultureller Identitätssuche – immer steht der Mensch im Zentrum, der zwischen Sprachlosigkeit und Aufbegehren seinen Weg sucht.

Gleich zum Festivalbeginn am 10. Juli wird der Ton gesetzt: In der industriellen Atmosphäre der Danziger Werft verwandelt Bass Łukasz Konieczny Schuberts „Winterreise“ in ein interdisziplinäres Mahnmal. Der Liedzyklus trifft auf Gedichte des polnischen Widerstandspoeten Krzysztof Kamil Baczyński und Tagebuchfragmente von Koniecznys Großvater – einem Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald. Tanz, Musik und Text verschmelzen zu einem berührenden Kunstwerk über das Durchhalten in unmenschlichen Zeiten. Politisch, poetisch, packend.
Salome tanzt im Wald
Eines der zentralen Highlights folgt am 11. und 13. Juli in der legendären Waldoper von Sopot (Opera Leśna powered by Energa): Richard Strauss’ „Salome“ wird von Regisseur Romuald Wicza-Pokojski in eine nahöstliche Krisenlandschaft verlegt, in der patriarchale Machtstrukturen ebenso erschüttert werden wie unsere eigenen Deutungsmuster. Jennifer Holloway verkörpert die Salome als faszinierend ambivalente Figur, begleitet von der Sinfonia Varsovia. In der ersten Aufführung übernimmt Yoel Gamzou die musikalische Leitung, in der zweiten steht Piotr Jaworski am Pult. Die Kulisse der Waldoper mit ihrer Naturakustik, Vogelstimmen und Abenddämmerung schafft besonderes Opernerlebnis.
Am 12. Juli folgt ein Novum: Zum ersten Mal wird Krzysztof Pendereckis Lukas-Passion szenisch umgesetzt – wiederum unter freiem Himmel in der Waldoper. Mit einem Solistenensemble der Extraklasse – Matthias Goerne, Olga Bezsmertna, Adrian Eröd – wird das Werk zur erschütternden Reflexion über Leid, Ausgrenzung und inneren Zerfall. Die musikalische Leitung übernimmt Basem Akiki, der die komplexen Klangwelten mit dramatischer Stringenz entfaltet.

Ebenfalls am 12. Juli bringt Komponist Alek Nowak seine neue Oper „Głos Potwora“ („Die Stimme des Monsters“) zur Uraufführung – ein Musiktheater über Identität, Überleben und die dunklen Masken der Geschichte. Inspiriert von Salomon Perel, einem jüdischen Jungen, der sich während des Zweiten Weltkriegs in der Hitlerjugend tarnte, entwirft Regisseurin Agnieszka Smoczyńska eine szenische Welt zwischen Albtraum und Aufbruch. Jan Jakub Monowid übernimmt die Titelrolle – und führt das Publikum tief in die Grauzonen menschlicher Existenz.
Kulturelle Verwurzelung mit kaschubischem Klang
Am 15. Juli wird es leiser – aber nicht weniger eindrucksvoll: Mit dem Liederzyklus „Wòlô bòskô“ von Łukasz Godyla wird die kaschubische Identität der Region zum Klingen gebracht. Schauspielikone Danuta Stenka und Bariton Damian Wilma erzählen in Musik, Bewegung und Sprache von Heimat, Wandel und Zugehörigkeit – eindrücklich und voller Respekt für eine Kultur, die oft übersehen wird.

Zum feierlichen Abschluss am 16. Juli treffen sich Nachwuchskünstlerinne und -künstler mit etablierten Klassikstars im St. John’s Centre in Danzig. Mit dabei: Olga Bezsmertna und Rafał Siwek, die gemeinsam mit den Teilnehmenden ihrer Masterclass ein Konzert gestalten, das zugleich Rückblick und Aufbruch ist – musikalisch wie menschlich.
Was das Baltic Opera Festival so besonders macht, ist nicht nur sein spektakuläres Setting. Es ist der Mut, große Kunst mit noch größeren Fragen zu verbinden. Festivalgründer Tomasz Konieczny bringt es auf den Punkt: „Wir fragen laut: Wohin gehst du, Mensch?“ – und die Musik antwortet.